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behauptet1); und die modernen Erklärer und Apologeten haben in der Tat in der Einzelerklärung von dieser naheliegenden Ausflucht öfter Gebrauch gemacht. Aber es ist erstens sehr fraglich, wieweit der Dichter selbst, der noch mitten im Schaffen steckt, solche Widersprüche überhaupt bemerkt. Werke wie Platons Staat, Goethes Faust und Schillers Karlos beweisen, daß der Verfasser nicht über der Herausgabe gestorben zu sein braucht, um eine Fülle der stärksten Widersprüche zu vereinigen. Ja, selbst wenn der Autor von anderen auf solche Widersprüche aufmerksam gemacht wird, ist er durchaus nicht gleich geneigt, darauf etwas zu geben und sein Werk umzugießen. Lehrreich dafür ist z. B. Schillers nachträgliche Rechtfertigung in seinen Briefen über Don Karlos 2). Demnach ist es fraglich, ob Vergil die in seiner Aeneis vorhandenen Widersprüche überhaupt anerkannt haben würde, wenn er darauf aufmerksam gemacht worden wäre, und ob er daraufhin etwas geändert haben würde, was in der Form bereits vollendet schien.

Eine Störung der Einheit durch Widersprüche und gelegentlich auch durch Dubletten und ungleiche Behandlung nachzuweisen, war dem letzten halben Jahrhundert vorbehalten. Für die Aeneis hat erst 1863 der Trierer Gymnasiallehrer Friedrich Conrads3) die entscheidenden Schritte gewagt. Das hat der Reaktion gegen die Überschätzung früherer Jahrhunderte Nahrung gegeben, während die höhere Kritik bei Homer der Wertung der Dichtungen nicht viel geschadet hat, vielleicht weil sie in weiten Kreisen als Volkspoesie anerkannt sind. Was aber der Volkspoesie recht, ist der Kunstpoesie billig. Unebenheiten und Widersprüche, die die Gelehrten erst mühsam nachweisen müssen, die aber der unbefangene Leser kaum bemerkt — und in der Aeneis sind sie geringfügiger als in Odyssee und Ilias —, sie können das Werturteil nicht wesentlich beeinflussen. Aber

1) Servius zu V 626 ergo constat quaestionem hanc unam esse de insolubilibus, quas non dubium est emendaturum fuisse Vergilium.

2) Vgl. Deutsche Rundschau XXXI (1905) S. 61 f. und besonders 66 f.

3) Quaestiones Virgilianae, Progr. Trier 1863. Seine Vorgänger wie Wagner haben zwar Einzelausstellungen vorgebracht, wie die Vergilgeißeln des Altertums, aber nicht die schöpferischen Folgerungen daraus gezogen.

noch weniger darf ein ästhetisches Werturteil das kritische Aufspüren von Mängeln beeinträchtigen, so wenig wie etwa weiche Gefühlsregungen die Vivisektion bei medizinischen Versuchen verhindern dürfen. Das Seziermesser muß von der Hand des philologischen Interpreten zum Zwecke transzendentaler Untersuchungen ohne Rücksicht auf sentimentale Empfindungen scharf und sicher geführt werden. Unsere Literarhistoriker stecken oft zu tief in der ästhetisierenden Betrachtungsweise, als daß sie den kritischen Spezialuntersuchungen, die sie kennen und anführen, ihr volles Recht gäben. Und auch Heinze kann der Vorwurf nicht ganz erspart bleiben, daß er das Führen des Messers mehr nebenbei und halb widerwillig gestattet hat und sich selbst seiner, außer zu apologetischen Zwecken, um andere einschneidende Vermutungen abzuwehren, nur ungern bedient. Aber er sucht sich doch immer wieder mit den kritischen Angriffen abzufinden. Sonst pflegt das Verfahren viel äußerlicher zu sein. So leitet O. Ribbeck in der Geschichte der römischen Dichtung seine Schilderung der Aeneis (II 53-102) mit einer chronologischen Skizze ein (56 f.) und schließt sie mit einer kleinen Blütenlese von Widersprüchen (101 f.), ohne tiefer greifende Folgerungen aus diesen angeblichen Spuren von Unfertigkeit für die Chronologie der Bücher und die allmähliche Entstehung des ganzen Werkes zu ziehen: seine Darstellung berücksichtigt nur die vorhandene Aeneis als eine im Ganzen fertige und einheitliche, von Anfang an fast so beabsichtigte Schöpfung. Alle kritische Arbeit erscheint also als überflüssig, die berechtigten Ausstellungen der Vergilgeißeln werden als Merkwürdigkeiten anerkannt und durch eigene Beobachtungen ergänzt, aber sie werden nicht fruchtbar gemacht zur Gewinnung wirklich neuer historischer Kenntnisse.

Die Kritik setzt ja zerstörend ein, aber sie will fortschreiten zu neuem Aufbau: sie will das allmähliche Entstehen des Kunstwerkes und die Arbeitsweise des Dichters selbst ermitteln und bedient sich dazu des einzigen ihr zu Gebote stehenden Hilfsmittels, einer durch eingehende Interpretation des Gedankenganges gewonnenen Analyse. Das ist das Fortschreiten von rein philologischer Betrachtung zu historischer Auffassung, von

dem Realen zum Transzendentalen, von den gegebenen Tatsachen zur wissenschaftlichen Hypothese. Wer Bedenken dagegen hat, wird nicht mitarbeiten. Wer aber dabei mitsprechen will, hat die Pflicht, mindestens die aufgestellten Hypothesen auf die Beweiskräftigkeit ihrer Argumente zu prüfen. Am wenigsten dürfen die verschiedenen, sich oft widersprechenden Resultate einer noch nicht gefestigten Kritik den Vorwand abgeben, die Prüfung ihrer Argumentationen a limine abzulehnen. Der Skeptizismus ist bequem, aber er ist der schlimmste Gegner jeden Fortschrittes der Erkenntnis.

Wir stehen heute nicht mehr auf dem Standpunkte, von jedem Literaturwerke anzunehmen, daß der Verfasser mit dem ersten Buche und dem ersten Verse begonnen und seine Arbeit mit der letzten Zeile, die wir lesen, geschlossen hat. Buch a ist das jüngste von allen Büchern der Odyssee. Und die Persönlichkeit eines Dichters oder Denkers pflegt zuerst das zu gestalten, was ihm am meisten am Herzen liegt, was zunächst ihm das Wichtigste erscheint. Wer wird ohne vorgefaßte Meinung glauben, daß das für Vergil aus dem reichen Stoffe der römischen Aeneassage die Episode in Karthago, sein Liebesgetändel mit Dido gewesen sei? Die Aeneis beginnt mit dem von luno und Aeolus erregten, von Neptun beigelegten Sturme einer unbedeutenden Nebensache für die Haupthandlung. Solche Stürme und Eingriffe der Götter finden sich, sobald der Dichter sie braucht, aber damit beginnt nicht die Konzeption eines aus reichem Stoffe zu gestaltenden Epos: in den nationalen Zügen der Sage ist der Ausgangspunkt des nationalen Epos zu suchen. Der Ästhetiker legt seinen Betrachtungen das лоóтεооv πоÒс ἡμᾶς zugrunde, der Historiker das πρότερον πρὸς τὴν φύσιν, um mit Aristoteles zu reden; der Philologe aber sucht die Verbindungslinien zwischen beiden auf, dem mehr zufällig Gegebenen und dem divinatorisch zu Erschließenden.

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Mir liegt, wie man sieht, nichts daran, die Resultate der Analyse für sicherer auszugeben als sie sind. Die meisten Kritiker sind darin anderer Ansicht, wenn sie von äußeren Nachrichten über die Arbeitsweise des Dichters und die Entstehung seines Werkes ausgehen können. Aber solche Nachrichten sind

oft unsicherer, als sie scheinen, und dadurch gefährlich, daß sie die Kritik von vornherein in Bahnen weisen, die das freie Urteil beschränken. Ich habe das bei Gelegenheit für Schillers Don Karlos gezeigt, dessen Werdeprozeß durch eine Anzahl von Briefstellen festgelegt war und gerade dadurch nicht unabhängig und tief genug verfolgt werden konnte 1). Ich fürchte, auch mit Vergil steht es ähnlich.

Wenig helfen die äußeren Zeugnisse, von denen man gewöhnlich ausgeht, über des Dichters eigene Vorlesungen einzelner Bücher (II, IV und VI nach Donat, dagegen III und IV nach Servius), da sie einander widersprechen und über die ersten Jahre seiner Arbeit und die Konzeption des ganzen Werkes nichts aussagen 2). Nur Verwirrung stiften kann das, was der Grammatiker Nisus von alten Leuten gehört haben wollte, daß Varius bei der Herausgabe Buch II und III vertauscht habe3), oder die nichtige Bemerkung bei Servius, daß Buch I stofflich hinter II und III gehöre1). Andere alte Zeugnisse von Properz und Vergil selbst geben zwar mehr aus, lassen sich aber erst erschöpfen, wenn die Analyse ihre Aufgabe gelöst hat.

Auch die Anspielungen auf Zeitereignisse, die meist der Deutung fähig sind, gehören nicht zu den Voraussetzungen der Analyse. Beispielsweise geht jeder mit einem Vorurteile an sie heran, wer unter dem Einflusse der Datierungen Ribbecks und

1) Neue Jahrbücher VII (1901) S. 89.

2) W. Kroll, Studien über die Komposition des Aeneis, Fleck, Suppl. XXVII (1902) 160. Donat p. 61 R., p. 7 Br. cui tamen multo post (sc. a. 26) perfectaque demum materia tres omnino libros recitavit, II, IV, VI etc. Die Einzelheiten, die folgen, beglaubigen diese Erzählung. Unkontrollierbar ist Servius zu IV 323.

3) Donat p. 64 R., p. 9 Br. Nisus grammaticus audisse se a senioribus aiebat, Varium duorum librorum ordinem commutasse, et qui nunc secundus sit in tertium locum transtulisse. Es ist verkehrt, den Text nach Servius ändern zu wollen.

4) Servius p. 4, 17 Th. ordo quoque manifestus est, licet quidam superflue dicant secundum primum esse, tertium secundum et primum tertium, ideo quia Aeneas primo Ilium concidit, post erravit Aeneas, inde ad Didonis regna pervenit. Diese kindlich einfache Betrachtung eines Exegeten hat mit dem Berichte der alten Leute bei Nisus gar nichts zu tun.

Sabbadinis1) Buch I in den Beginn der reichlich zehnjährigen Arbeit Vergils an seinem Epos (29-19) oder gar in das erste Jahr vor Juli 28 setzt. Denn der Hinweis claudentur Belli portae I 294, den sie auf die erste Schließung des Janustempels unter Octavianus vom Sextilis 29 bis zum Julius 28 v. Chr. beziehen, braucht nicht innerhalb dieser zwölf Monate gedichtet zu sein. Friedensprophezeiungen waren ja jederzeit erwünscht und angebracht, auch mitten im Kriege. Außerdem erfolgte eine zweite Schließung des Tempels unter Augustus 25 v. Chr. mit unbekannter Dauer). Und wer will beweisen, daß Vergil nicht diesen Tempelschluß im Auge hatte, also seine Weissagung in Buch I nicht erst 24 oder noch später dichtete?

Sehr wertvoll ist, was Donat über Vergils Arbeitsweise berichtet: er habe den Stoff der Aeneis zuerst in Prosa konzipiert und auf zwölf Bücher verteilt, dann im einzelnen dieses oder jenes Stück nach Belieben ausgearbeitet, ohne sich um das Einreihen in den Zusammenhang zu kümmern3). Damit vergleiche man Goethes Urteil über Schillers Arbeitsweise: „Er griff in einen großen Gegenstand kühn hinein und betrachtete und wendete ihn hin und her, und sah ihn so und so, und handhabte ihn so und so. Er sah seinen Gegenstand gleichsam nur von außen an, eine stille Entwicklung aus dem Innern war nicht seine Sache. Sein Talent war mehr desultorisch, deshalb war er auch nie entschieden und konnte nie fertig werden... Und wie er überall kühn zu Werke ging, so war er auch nicht für vieles Motivieren *)“. Kühn war der Römer gewiß nicht, aber im übrigen paßt diese Schilderung auch auf Vergil.

1) Ribbeck, Proleg. crit. Lips. 1866, p. 64; Gesch. d. röm. Dichtung, Stuttg. 1889, П 64. Sabbadini, Studi critici sulla Eneida (Lonigo 1889) u. ö.

o) Orosius 6, 21. Cassius Dio 53, 26. Horaz nahm auf die Schließung des Janustempels noch mehrere Jahre nach Vergils Tode Bezug, obwohl die nächste erst im Jahre 2 v. Chr. erfolgt ist. Vgl. Kroll S. 160, 3.

Donat p. 59 R., p. 6 Br. Aeneida prosa prius oratione formatam digestamque in XII libros particulatim componere instituit, prout liberet quidque, et nihil in ordinem arripiens.

4) Eckermanns Gespräche mit Goethe, 18. Jan. 1825. Kroll urteilt ganz ähnlich über Vergil, nur viel zu hart.

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