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I.

DER DICHTER

Seit die Romantiker über das höfische Kunstepos Vergils den Stab gebrochen haben, ist immer mehr an die Stelle der früheren Überschätzung das Gegenteil getreten. Es ist nicht mehr modern, die Aeneis als eine große Dichtung anzuerkennen: wir haben es so unendlich weit gebracht, daß uns der Ruhm zweier Jahrtausende nicht mehr imponieren kann, daß wir mit Kallimachos in dem nachhomerischen Epos ein uéya xaxóv voller Phrasen und Fehler sehen. Richard Heinzes Buch über Vergil1) hat darum etwas Altfränkisches: ein Bewunderer des römischen Dichters versenkt sich in dessen veraltete Technik und sucht unser Interesse dafür zu erwecken und zu vertiefen. Aber ein unleugbares Verdienst hat Heinze: er kennt seinen Dichter und lehrt jeden, der lernen will, die Aeneis wieder als Ganzes freudig zu empfinden. Wer sich die Zeit nimmt, die zwölf Bücher hintereinander durchzulesen, und dabei ohne kritische Nebenabsichten auf die Intentionen des Dichters und den Fortgang der Handlung achtet, dem kann der große Wurf dieser Dichtung nicht entgehen. Im Schulunterrichte wie in Seminarübungen kann dieser Eindruck schwer erzielt werden, weil dem Schüler meist nur kleine Abschnitte mit vielen Zwischenpausen vorgelegt werden, so daß schon der unmittelbare Zusammenhang der gelesenen Stücke verloren geht, eine Übersicht über das Ganze aber überhaupt fehlt. Und doch kann ein Epos wie jede Tragödie oder jeder platonische Dialog nur als Ganzes wirken.

Gewiß ist Vergil durch den Tod verhindert worden, die letzte Hand an seine langjährige Arbeit zu legen 2). Aber ich

1) R. Heinze, Virgils epische Technik, Lpz. 1903; 2. Aufl. 1908.

2) Donat p. 62 Reiff, p. 16 Diehl, p. 7 Brummer anno aetatis LII impositurus Aeneidi summam manum Vita p. 53 R., p. 67 Br. cui finem non

potuit imponere raptus a fatis.

Gercke, Die Entstehung der Aeneis.

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zweifle sehr, ob er, wenn er noch selbst zur Herausgabe dieses Werkes gekommen wäre, noch Wesentliches daran geändert haben würde.

Die gute Nachricht, Vergils Freunde hätten bei der Herausgabe des hinterlassenen Epos nichts hinzugesetzt oder nichts hinzusetzen dürfen, wie sie bei Hieronymus vorliegt 1), beruht auf einem Auszuge aus Donat und mittelbar aus Sueton. Nach dem unverkürzten Berichte wollte der Dichter, was uns fast unglaubhaft klingt, sein Werk vernichten. Wenn er das wirklich wünschte, was zu bestreiten wir kein Recht haben, Augustus sich aber in Übereinstimmung mit Varius dem widersetzte und die Vernichtung verhinderte 2), so haben doch beide Freunde unzweifelhaft im Sinne des Dichters gehandelt. Freilich waren diesem nicht erst auf dem Totenbette, sondern schon vor dem Antritte seiner letzten Reise ernste Zweifel gekommen, ob sein fast vollendetes Werk wirklich lebensfähig sei; und so mag er in trüber Stimmung an die Freunde das Verlangen gerichtet haben, im Falle seines Todes sein Manuskript zu verbrennen3). Dieses Verlangen soll man nicht als angeblichen Ausdruck einer ungewöhnlichen, tiefbegründeten Selbstkritik überschätzen. Hat sich

1) Hier. Chron. z. J. Abrahams 2000 = 17 v. Chr. Varius et Tucca, Vergili et Horati contubernales, poetae habentur illustres: qui Aeneid(is) postea libros emendarunt sub lege ea, ut nihil adderent.

2) Servius zur Aeneis p. 2, 12 Th. (p. 70 Br.) Augustus vero, ne tantum opus periret, Tuccam et Varium hac lege iussit emendare, ut superflua demerent, nihil adderent tamen. Probus p. 53 R., p. 74 Br. Aeneis servata ab Augusto. Donat p. 63 R., p. 8 Br. . . . L. Varium et Plotium Tuccam, qui eius Aeneida post obitum iussu Caesaris emendaverunt . . . edidit autem auctore Augusto Varius, sed summatim emendata.

3) Donat p. 64 R., p. 9 Br. egerat cum Vario, priusquam Italia decederet, ut si quid sibi accidisset, Aeneida combureret; sed is ita facturum se pernegarat. igitur in extrema valetudine assidue scrinia desideravit crematurus ipse. verum nemine offerente nihil quidem nominatim de ea cavit, ceterum eidem Vario ac simul Tuccae scripta sua sub ea condicione legavit, ne quid ederent, quod non a se editum esset. Probus p. 53 R., p. 74 Br. quamvis ipse testamento damna(veri)t. ne quid eorum, quae non edidisset, extaret. Servius p. 2, 11 (p. 70 Br.) nec emendavit nec edidit (Aeneidem): unde eam moriens praecepit incendi.

doch Varius, wenn die Erzählung Tatsachen wiedergibt, sofort ausdrücklich geweigert 1), darauf einzugehen.

Vergil hatte stets langsam gearbeitet und eine fast ängstliche Scheu zu überwinden gehabt, mit seinen Dichtungen vor die Öffentlichkeit zu treten. Im elften Jahre seiner Arbeit an der Aeneis steigerte sich diese Scheu und die in seinem Charakter begründete Bedenklichkeit so sehr, daß er noch drei Jahre zum Ausfeilen zu gebrauchen glaubte und diese stille Arbeit fern von Rom vornehmen wollte 2). Dieser wohl durch hämische Kritik) ausgelöste Entschluß, der in Wahrheit Entschlußlosigkeit war, konnte für die Dichtung verhängnisvoll werden. Augustus erkannte das natürlich, als er, vom Oriente zurückkehrend, den Dichter in Athen traf und ihn mit sich nach Italien zurücknahm: damit rettete er in Wahrheit die Aeneis vor dem Untergange, und der Dichter selbst willigte durch seine Umkehr in ihre Erhaltung und Veröffentlichung, mochte er auch noch einiges zu bessern sich vorbehalten. Seine abermaligen Bedenken auf dem Totenbette sind menschlich zu verstehen, haben aber noch weniger Bedeutung. Zum Glück hat weder er selbst sein Manuskript verbrannt noch sind die Freunde dem letzten Wunsche nachgekommen.

Die Vollendung des ganzen Werkes war überhaupt bereits viel weiter vorgeschritten, als Vergil damals und in der Stimmung seiner Romflucht zugab. Solange er sich noch in voller Frische der Arbeit widmete, dachte er darüber anders. Denn er trug einzelne Bücher, die er für nahezu vollendet halten durfte, in kleineren und größeren Kreisen vor, übrigens auch gerade Partien, über

1) Eine Variante (p. 63 R., p. 28 Br.) weiß sogar: verum Tucca et Varius monuerunt id Augustum non permissurum.

2) Donat p. 62 R., p. 8 Br. Anno aetatis LII impositurus Aeneidi summam manum statuit in Graeciam et in Asiam secedere triennioque continuo nihil amplius quam emendare, ut reliqua vita tantum philosophiae vacaret. sed cum ingressus iter Athenis occurrisset Augusto ab oriente Romam revertenti destinaretque non absistere atque etiam una redire, . . . languorem nactus est.

3) Darauf führt eine Bemerkung aus der Verteidigungsschrift des Asconius Pedianus gegen die obtrectatores Vergili p. 66 R., p. 11 Br.: et tamen destinasse recedere, ut omnia ad satietatem malevolorum decideret. Freilich brauchte er sich der meisten Entlehnungen aus Homer nicht zu schämen. Vgl. Diehl S. 21.

deren Wirkung er sich erst ein Urteil bilden wollte 1), wie ein Dichter es auch kurz vor der Veröffentlichung des ganzen Werkes tun konnte. Der Vortrag war ja schon ein Veröffentlichen.

Dem entspricht auch der tatsächliche Zustand der pietätvoll von Varius edierten Aeneis selbst. Namentlich ist der Aufbau der Handlung im ganzen so geschlossen, daß größere Erweiterungen oder stärkere Umänderungen nicht mehr zu erwarten waren. Wir dürfen vielmehr behaupten, daß der Dichter die fast lückenlos verlaufende Handlung als endgültige Gestaltung des Stoffes angesehen hat und, abgesehen von Einzelheiten, das Epos so, wie wir es haben, zu veröffentlichen gedachte, sicher in der Reihenfolge, in der wir die Bücher lesen.

Was konnte er denn überhaupt noch ändern wollen? Man wird in erster Linie an die im Texte belassenen Halbverse denken. Aber auf die hierbei fehlende Feile kommt ja wenig an, wenngleich sich diese Halbverse ziemlich gleichmäßig über die verschiedenen Bücher verteilen: ein Zeichen, daß kein Buch im Grade seiner Vollendung wesentlich hinter den anderen zurückgeblieben ist2). Der Herausgeber ließ sie unangetastet3), während er überschüssige Verse getilgt haben soll4). Der Dichter mochte auch beabsichtigen, auf die späteren Ereignisse noch öfter Vorverweisungen anzubringen, wie sie besonders im I. Buche auffallend hervortreten, oder mochte in den letzten Büchern Rückverweisungen vermissen. Wichtiger ist, daß die Weltanschauung des Dichters, unter der sich die Ereignisse vollziehen, nicht überall einheitlich zum Ausdrucke kommt, wie wir noch sehen werden. Dafür, daß er dies selbst empfand, darf man sich vielleicht auf seine Lebenspläne berufen, die er vor seiner letzten Reise den Freunden mitteilte: er wollte noch drei Jahre auf die Durcharbeitung der Aeneis verwenden, um sich

1) Donat p. 62 R., p. 7 Br. (Augusto) tres omnino libros recitavit recitavit et pluribus, sed neque frequenter et ea fere, de quibus ambigebat, quo magis iudicium hominum experiretur.

2) Zuletzt Noack, Hermes XXVII (1892) S. 410, 3.

3) Donat p. 64 R., p. 9 Br. ut qui versus etiam imperfectos, sicut [so Gronov. für si qui] erant, reliquerit.

4) Servius p. 2, 14 (p. 70 Br.) ut superflua demerent.

dann ganz der Philosophie zu widmen1). Philosophische Betrachtungen haben ihn also damals beschäftigt. Nicht nur die großartige Schilderung der Unterwelt im VI. Buche, sondern auch verstreute Bemerkungen sind dafür lebendige Zeugen. Es war die teleologische Weltanschauung der Stoa, mit der der Dichter sich und sein Werk immer mehr durchdrang, die die Mission des Aeneas in einem verklärten Lichtschein zeigte. Dieser neuen Auffassung war der Dichter gewiß bereit, manche naiven Außerungen und Schilderungen aus früherer Zeit zu opfern.

Auch sonstige Ungleichmäßigkeiten fanden sich in der Ausführung der Aeneis: manchen breiten Erzählungen stehen einzelne übermäßig knappe Skizzen und sogar gelegentlich in ihrer Kürze unverständliche Bemerkungen gegenüber. Vergil hatte die Gewohnheit angenommen, indem er auf die Schilderung der großen Züge und Begebenheiten hindrängte, einzelnes, was ihm im Augenblicke unwesentlich schien, und ihn nur aufhielt, abzubrechen oder wenigstens mit wenigen Worten vorläufig abzutun: das waren seine Stützbalken, wie er im Scherze sagte2). Er behielt sich also eine spätere Ausführung vor; aber damit ist nicht gesagt, was er bei längerem Leben an ihre Stelle gesetzt haben oder ob er sie überhaupt überall ersetzt haben würde. Sodann finden sich in der Aeneis allerhand Dubletten, die Varius nicht gestrichen hat, obwohl einige störend genug sind. Endlich beobachten wir auch Widersprüche, und diese weder in geringer Zahl noch ganz unbedeutende.

Man könnte vermuten, der Dichter hätte namentlich diese Widersprüche noch beseitigen wollen, wie Servius gelegentlich

1) Donat: oben S. 3 Anm. 2.

2) Donat p. 60 R., p. 6 Br. Aeneida . . particulatim componere instituit, prout liberet quidque, et nihil in ordinem arripiens. ac ne quid impetum moraretur, quaedam imperfecta transmisit, alia levissimis verbis veluti fulsit, quae per iocum pro tibicinibus interponi aiebat ad sustinendum opus, donec solidae columnae advenirent. Es ist falsch, unter den Stützbalken die Halbverse zu verstehen, die der Dichter in lückenloser Umgebung beließ, vielmehr muß man an Skizzen denken wie den abrupten Schluß des III. Buches und die Lücke am Schlusse des X., die durch XI 1 nicht geschlossen wird. Ich freue mich, darin mit E. Norden übereinzustimmen, der drittehalb Verse IV 384 b-86 ebenso erklärt (Hermes XXVIII 1893, 514): also konnten Halbverse auch durch die Beseitigung von Stützbalken entstehen.

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