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1689, die declaration oder bill of rights, 1 deren Aufrechthaltung die neue Dynastie sich verpflichtete. Selbst der Act of settlement vom 12. Juni 1701, in welcher Urkunde die künftige Succession des Hauses Hannover auf dem brittischen Throne festgesezt ward, muß den englischen Reichsgrundgesehen beigezählt wers den. Die Verfassung Großbritanniend, wie sie jest in der Staatspraxis erscheint, beruht daher auf keinem, das ganze innere Staatsleben gleichmäßig umschließenden, Grundgesege; vielmehr hat fie, geftüßt auf einige allgemeine Reichsgefeße, im Laufe der Jahrhunderte practisch sich gebildet, und dadurch den politischen Chas rakter erhalten, unter welchem sie gegenwärtig er scheint.

So wie aber seit der Zeit des Mittelalters das teutsche Reich und Großbritannien einzelne Reichs, grundgefeße, nicht aber Verfassungsurkunden im neuern Sinne des Wortes, erhielten, so auch die Königreiche Ungarn, Frankreich, Spanien, Schweden, Danes mark u. a.

Die erste schriftliche Verfassungsurkunde, im mos dernen Begriffe dieses Wortes, entstand nicht auf eus ropäischem, sondern auf amerikanischem Boden; es war die am 17. September 1787 von dem Congresse Ju Philadelphia entworfene, und im März 1789, in Berbindung mit mehreren Busagartikeln, von den 15 Provinzen dieses Bundesstaates angenommene schrifts

liche Verfassungs- und Staatsvertragsurkunde. Es ge: hört nicht hieher, nachzuweisen, wie viel die Geseßgeber des jungen transatlantischen Freistaates aus den practischen Verfassungsformen des monarchischen Mutterlandes in diese schriftliche Urkunde aufnahmen ; eben so wenig kann hier ausgeführt werden, in welchem Verhältnisse die besondern Verfassungen der einzelnen 13 (jeht 24) Provinzen zu der Gesammtverfassung des ganzen Bundesstaates fiehen. Für unsere Untersuchung ift nur das eine Ergebnis wichtig, daß die neue americanische Verfassung vom 17. Sept. 1787 das erste Grundgesek war, welches in einer schriftlichen Urs kunde die wesentlichen Bedingungen des gesammten ins nern Staatslebens nach ihrem nothwendigen Zusams menhange aussprach und durchführte.

Dieser große Vorgang, mit welchem in der Gestaltung des innern Staatslebens eine neue Acra anhob, blieb nicht ohne Rückwirkung auf Europa. Gleichzeitig sprach die erste Nationalversammlung Frankreichs und der Reichstag der Polen dieselbe Absicht aus, durch eine schriftliche Verfassungsurkunde das innere Staatsleben neu zu gestalten. In Frankreich ward die neue Verfass fung am 3. Sept. 1791 von der Nationalversammlung beendigt und vom Könige Ludwig XVI, am 14. Sept. beschworen; in Polen geschah dasselbe bereits am 3. Mai 1791. Allein, wie groß war die Verschiedenheit in den wesentlichsten Grundbestimmungen der beiden erften, auf europäischem Boden versuchten, bald aber wieder ers

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loschenen — schriftlichen Verfassungsurkunden! Zwar beschränkten beide die absolute Macht der Könige. Wähe rend aber von def aufgeregten Mehrheit der Mitglieder der ersten französischen Nationalversammlung das for genannte weikammersystem, ungeachtet des

Beispiels in der brittischen und nordamericanischen Verfassung, verworfen ward, erklärte sich der besonnene Geist und richtige Tact der Polen für die Vertheilung der Reichsstände in wei Kammern; eine Eintheilung, welche die auf die Geschichte gestüßte Staatskunft als durchaus nothwendig für alle größere Staaten ausspricht. Während ferner in Frankreich der Bau der neuen Verfassung, ohne zuvor eine zweckmäßige Ges meindes und Städteordnung (eine Municipalverfassung) zu geben, vollendet ward, ging in Polen der Beendis gung und Annahme der Verfassung vom 3. Mai 1791 die Bekanntmachung des Freiheitsbriefes der königlichen Städte" am 14. April 1791. *) vore aus, wodurch der ganze dritte Stand in Polen für die neue Ordnung der Dinge gewonnen, und diefer Freia heitsbrief in der Verfassung selbst förmlich bestätigt ward.

1) Er steht in der von mir (anonym) herausgegebenen | Sammlung in vter Bänden: Die Conftitutionen der europäischen Staaten, Th. 2. S. 6 ff., in welchem Werke überhaupt alle öffentlich bekannt gewordene (noch bestehende und wieder erloschene) Constitutionen En ropas bis zum Jahre 1884 mit Einschluß der Nordainerii canischen Verfassung vom J. 1787 — sich befinden.

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Allein beide Verfassungen, die französische und die polnische, erloschen-bald nach ihrer Bekanntmachung. Die erste trug in vielen organischen Fehlern (naments lich in der völligen Ausschließung des Königs von der Initiative der Geseze, und in der Vereinigung aller Volksvertreter in einer einzigen Kammer) den Grund ihrer eigenen baldigen Auflösung; die zweite trat in Po len, bei dem Einzuge der Russischen Heere, außer Wirks famkeit, und die zwei leßten Theilungen Polens in den Jahren 1793 und 1795 waren die verhängnißvollen Fols gen der im Lande der Sarmaten zu spåt versuchten neuen Gestaltung des innern Staatslebens.

Nur in flüchtigen geschichtlichen Andeutungen kann der übrigen, seit dieser Zeit im europäischen Staatens systeme versuchten, neuen Verfassungen gedacht werden, boch so, daß bei jeder derfelben bemerkt wird, ob sie wieder erlosch, oder ob sie noch besicht.

Die zweite Verfassung Frankreichs vom 24. Juni 1793, vom Nationalconvente Frankreichs, wenige Mos nate nach Ludwigs XVI. Hinrichtung, für die junge Republik gegeben, berührte in ihren Bestimmungen das democratische Extrem, und trat gar nicht ins Staatsleben ein, weil sie bereits im August 1795 von ihren eiges nen Urhebern suspendirt ward. Dagegen dauerte die dritte Verfassung der Republik Frankreich * vom 22. August 1795 mit einem Directorium son fünf Individuen für die vollziehende Gewalt, und zwei Rás

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then, dem Rathe der Fünfhundert und dem Rathe der Alten, für die geseßgebende Gewalt — vier Jahre, bis. fie der General Bonaparte auflösete, und an deren Stelle die vierte Verfassung vom 13. December 1799. sehte, die ihn als ersten Conful an die Svite des Staates ftellte. Der eigenthümliche politische Character dieser Verfassung war, daß die früheren republicanischs democratischen Bestimmungen der drei ersten Verfass fungen sich verloren, und durchgehends die Annåhes rung an das monarchische Princip hervortrat. Diese Verfassung, im Jahre 1802 und 1804 durch mehrere Senatusconsulta namentlich im Jahre 1804 durch die vom Senate im Namen des französischen Volkes ausgesprochene erbliche Kaiserwürde Napoles ons → verändert und erweitert, galt für die Franzosen bis zu Napoleons Thronverzichtung im Jahre 1814. Allein bereits einige Tage vor dieser Thronverzichtung erließ der französische Senat am 6. April 1814, unter Talleyrands Vorsige, eine neue Verfassung, welche Ludwig Bourbon durch den Willen des Volks auf den Thron berief. Ludwig XVIII. hingegen erkannte, nach seiner Ankunft auf französischem Boden, diese fünfte Verfassung nicht an; er machte vielmehr am 4. Juni 1814 die sogenannte conftitutionelle Charte, die sechste Verfassung Frankreichs, aus königlicher Machtvollkommenheit bekannt, ohne sie vor's her den Repräsentanten der Nation zur Begutachtung, Prüfung: und. Annahme vorzulegen, sprach in derselben

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