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Helden die Seele des Elpenor, die noch nicht in das Todtenreich selbst gelangen kann, weil der Leib nicht bestattet ist. Elpenor bittet daher eindringlich um die Gnade der Bestattung (Vers 81 ff.) Aus der Unterredung Elpenors mit Odysseus ist als beachtenswert für den Zustand der Seelen der Umstaud hervorzuheben, dass Elpenor über das Schicksal des Odysseus sich vollkommen unterrichtet zeigt. Während die genannten, an der Grube sich gegenübersißend, das Gespräch fortführen, kommt die Seele der Mutter des Odysseus heran und verweilt in der Nähe, als ob fie ein dunkles Gefühl von der Nähe ihres Sohnes hätte. Odysseus erkennt sie sogleich, will aber der gegebenen Weisung zufolge erst den Seher Tiresias abwarten. Derselbe kommt auch gleich herbei und erkennt den Helden, weil sein Geist auch im Hades drunten noch ungeschwächt ist. 1) Er hat auch seine Sehergabe im Hades noch fortbehalten und erscheint deshalb mit dem Abzeichen seiner Amtswikde, mit dem Scepter (Vers 91). Er begehrt von dem Blute zu trinken, offenbar um sich zu stärken, und verkündet darauf dem Odysseus sein künftiges Geschick bis an sein Lebensende. Odysseus, noch an derselben Stelle verweilend, fragt weiter, wie er es angehen solle, um sich der Mutter, welche noch immer in der Nähe verweilt, sich kenntlich zu machen und sie zum Sprechen zu bringen. Tiresias erklärt ihm, alle Seelen, die er dem Blute nahe kommen und davon trinken lasse, werden ihm Wahres verkünden, das will sagen, seine Fragen richtig beantworten, 2) denen er es verwehre, die würden sich schweigend zurückziehen.

Es zeigt sich eine merkwürdige Unbefangenheit darin, dass der Dichter den Todten, die doch weiter nichts sind als oxiaí (Odyss X, 495) oder àμɛvyvà xáorva (Odyss. X, 521), also Schatten, kraftlose Wesen, ohne alle Körperlichkeit, ohne Fleisch und Gebein, wie die Mutter des Odysseus selbst sagt (Vers 219), dennoch die Fähigkeit beilegt, Blut in sich aufzunehmen. Später lässt er die Seelen den Odysseus erkennen und mit ihm sprechen, ohne dass sie vorher vom Blute trinken. Nägelsbach 3) sucht diesen Widerspruch damit zu lösen, dass er annimmt, auch diese Seelen hätten vom Blute getrunken, nur erwähne es der Dichter nicht bei allen einzelnen. Das Publicum des Dichters stellte sich darüber keinerlei Fragen, sondern hörte dem Dichter mit derselben Unbefangenheit zu, mit der jener sang. Es entspricht allerdings der Vorstellung Homers, dass der Gebrauch der

1) Odyss. X, 493 und Nägelsbach, Hom. Theol. S. 341.

2) Nitsch, Anmerk. zu Vers 148.

3) Hom. Theol. S. 342.

geistigen Kräfte gebunden ist an körperliche Stärkung und Belebung, 1) weshalb, wie oben bemerkt wurde, auch der Seher zu trinken begehrte. Auch die Mutter, die sogleich herankommt, wie der Seher sich in das Innere des Hades zurückbegeben, erkennt ihren Sohn sofort und spricht ihn an, sobald sie sich gestärkt hat. Sie gibt zuerst ihrer Verwunderung Ausdruck, wie auch Tiresias (Vers 93), dass ihr Sohn als Lebender hieherkomme in das grausige Schattenreich. Die Worte: zahɛnòv de váde Lwołoir doão dai (Vers 156) besagen dasselbe, was Tiresias ausdrückt mit ¿τɛo̟néα zão̟ov (Vers 94): nicht etwa schwer zugänglich für Lebende; denn die 3 folgenden Verse, welche zu xaλɛróv, im legteren Sinne genommen, die Erklärung geben sollten, gehören sicher einem Diaskeuasten an. 2) Odysseus beantwortet die Frage über den Grund seines Erscheinens in der Unterwelt und erkundigt sich dann um die Todesart der Mutter (Vers 171) und um das Schicksal seines Vaters, des Sohnes und der Gattin. Die Mutter beantwortet die leßte Frage über das Befinden der Gattin zuerst, berichtet sodann ausführlich über die Lage des Telemach und über den Vater Laertes; als Ursache ihres Todes nennt sie tiefen Gram um den verlornen Sohn (Vers 180-205). Die Seelen der Abgeschiedenen besigen also nach der Vorstellung Homers genaueste Kenntnis über die Lage ihrer noch lebenden Angehörigen. Das ganz unbestimmte, nebelhafte Wesen der Schatten ist trefflich gezeichnet (Vers 207 ff.), wo Odysseus die Mutter umarmen möchte; allein dreimal entflieht „es“ das Unfassbare und Undefinierbare seinen Händen, gleich einem Schatten.3) Während der Unterredung des Odysseus mit der Mutter erscheinen viele Schatten von Frauen und Töchtern alter Helden, über welche der Dichter seinen Odysseus allerlei merkwürdiges aus den alten Sagenkreisen berichten lässt, um dem großen Sageninteresse seiner Zuhörer entgegenzukommen. 4) Odysseus bricht die Erzählung ab mit der Bemerkung, er werde und könne nicht alle die Frauen der Helden nennen, die er gesehen, und drängt zur Nachtruhe (Vers 328 ff.). Es folgt ein Zwischengespräch, an welchem Arete, Echenos und König Alkinoos sich betheiligen; letterer bittet Odysseus, in seiner Erzählung der Wundermärchen fortzufahren, und wünscht besonders, etwas über die Gefährten des Odysseus vor Jlion

1) Nitsch, Anmerk. 3. B. S 188 und 204.

2) Nizsch: zu dieser Stelle und La Roche 1. c. S. 347.

3) Ameis: zur Stelle.

4) vgl. Ameis, Anh. zu Vers 235 und Nigsch, Anm. S. 227.

zu erfahren. Der Gast fügt sich der Bitte, und damit beginnt der zweite Theil der Nekyia.

Nachdem Persephone die Psychen der Frauen zerstreut hat, tritt, so entspricht es der Bitte des Königs, die Psyche Agamemnons heran und in seinem Gefolge audere, die mit ihm durch Aegisthos den Tod ge= funden. Odysseus befindet sich noch in der Grube, und Agamemnon bedient sich auch der Stärkung mittelst des Blutes. In der Rede des Agamemnon ist charakteristisch die zweimalige Warnung an Odysseus vor der Untreue und den Ränken der Weiber; obwohl Agamemnon der Gattin des Odysseus alles Lob spendet, mahut er ihn dennoch, lieber heimlich nach Ithaka zu gehen (Vers 440 und 465). Dieser Gegensaß der treuen Penelope zur treulosen Klytämuestra, der Gemahlin Agamemnons, ist ein eigenthümlicher Zug in der Odyssee, der schon im Eingange von Zeus selbst angedeutet wird. 1) Auffallend ist weiter, dass Agamemnon wohl von einer guten Aufnahme des Odysseus in seiner Heimat spricht, über seinen Sohn Orestes aber von jenem etwas erfahren möchte, während die Mutter des Odysseus über das Befinden der Zurückgebliebenen sich genau unterrichtet zeigt. Während die Beiden noch sprechen, erscheint die Psyche des Achilles, gefolgt von der des Patroklos und Antilogos, welche beide im Leben die vertrautesten Freunde des großen Peleiden gewesen und deren Gebeine nach dem Tode unter demselben Hügel mit denen des Achilles bestattet worden waren. 2) Auch den Agamemnon begleiteten jene, die mit ihm dasselbe Los getheilt hatten. Man sieht daraus, dass der Dichter seine Helden auch im Hades so gruppiert, wie sie im Leben einander nahe gestanden waren. Achilles' Seele zeigt ferner auch in ihrem gegenwärtigen Zustande volles Bewusstsein, ohne einer Stärkung zu bedürfen, obwohl er selbst sich erstaunt zeigt über die Kühnheit des Odysseus, der es über sich gebracht, in den Hades herabzusteigen, wo die Todten als Besinnungslose wohnen, als Schattenbilder der Mattgewordenen, denen der Tod die Kräfte geraubt. 3) Odysseus beantwortet zuerst die Frage über die Ursache seines Hieherkommens und preist dann den Achilles glücklich, dass er selbst im Tode noch die achtunggebietende Stelle des Herrschers einnehme. Woran Odyssens dies erkennt, erfahren wir nicht. Achilles weist jedoch dieses Compliment, diesen Trost, ganz energisch zurück, und seine Antwort enthält den kräftigsten Ausdruck von der Trostlosigkeit und

1) Odyss. I, 35; vgl. Nißsch, Anmerk. S. 227.

2) vgl. Odyss. XXIV, 76-80; II. XXIII, 91 und 243-248.
3) vgl. Ameis: zu Vers 475; Nägelsbach, Hom. Theol. S. 341.

Nichtigkeit des Schattenlebens der Abgeschiedenen. Selbst die niedrigste Dienstbarkeit auf der Erde oben würde er der Herrschaft über sämmtliche Todten vorziehen (Vers 489 ff.). 1) Die Verlästerung der Zustände im Hades wie sie an dieser und an anderen Stellen 2) hervortritt, hat Platon, durchwegs ein heftiger Gegner der homerischen Theologie, scharf gerügt 3) und will alle derartigen Aeußerungen aus seinem idealen Staate verbannt wissen, weil dadurch in Männern und Knaben nur Todesfurcht geweckt und auf diese Weise die Heranbildung zur Tapferkeit und Todesmuthigkeit unmöglich gemacht werde. Die Freude des Achilles, dass er von Odysseus so ruhmvolles über seinen Sohn Neoptolemos gehört, ist Beweis dafür, dass der Dichter irgend ein Denken und Fühlen der Todten vorausseßt. Ebendasselbe ergibt sich aus den Klagen der übrigen Psychen, die sich an Odysseus herandrängen und ihm ihre Sorgen mittheilen, besonders aber aus dem Benehmen des Ajas, des Telamoniers, der den tiefen Groll gegen Odysseus, mit dem er aus dem Leben geschieden, auch im Todtenreiche noch fortnährt; denn ungeachtet der sehr freundlichen Ansprache des Odysseus bleibt der Gekränkte dennoch ferne und geht wieder zurück unter die Scharen der übrigen Todten. In entgegengeseßter Weise spricht sich Achilles am Grabe seines Freundes Patroklos aus: er werde seines trautesten Freundes auch dort im Hause des Hades noch gedenken. 4) Von da ab wird die Citation der Psychen aufgegeben, und es beginnt eine allgemeine Schilderung des Todtenreiches. Allein schon der Uebergangsvers 565 ist völlig unklar, und der Inhalt des Folgenden zeigt, dass wir eine spätere Zuthat irgend eines Interpolators vor uns haben. 5) Wie die Psyche des Ajas sich wieder ins Innere des oeßos zurückbegeben hat, lässt der Dichter den Odysseus bemerken:

ἔνθα χ ̓ ὅμως προσέφη κεχολωμένος, ἤ κεν ἐγὼ τόν (Ler3 565). Es sind verschiedene Conjecturen versucht worden, um diesen Worten einen passenden Sinn zu geben und sie mit dem Vorangehenden in Einklang zu bringen; allein sie haben zu keinem befriedigenden Resultate geführt. 6)

1) vgl. Ameis: zur Stelle und Nißsch, Anmerk. S. 283.

2) II. XX, 64; XXIII, 103; XVI, 856. Odyss. X, 495 und XXIV, 6 sqq. 3) Polit. III, pag. 386 B sqq.

4) Il. XX, 389; zur Sache vgl. Ameis, Anh. II. S. 12 und Nißsch, An

merk. S. 298.

5) Nitsch, Anmerk. S. 304 und Ameis: zur Stelle.

6) vgl. Nitsch, Anmerk. 3. B. S. 405.

Der dritte und legte Theil der Nekyia, in welchem Odyssens noch aus dem Schattenreiche den Minos, Orion, die Büßer: Tityos, Tantalos und endlich den Herakles schildert, zeigt eine ganz neue Situation. Odyf= seus fühlt ein glühendes Verlangen, auch die Seelen anderer Abgeschiedenen noch zu sehen. Von seinem bisherigen Standpunkte ans, nämlich an der Grube, konnte das nicht geschehen. Von einer Wanderung durch das dunkle Reich der Schatten wird aber nichts bemerkt, sondern es heißt gleich im folgenden Berje: ἔνθ ̓ ἦ του Μίνωα ἴδον, Διὸς ἀγλαὸν υἱόν.

Minos mit seinem Richterstuhl konnte aber ebenso wenig wie der hingestreckte Tityos oder Sisyphos mit seinem Felsblock zur Grube citiert werden und Odysseus dieselben also auch nicht sehen. Dass an eine Wanderung nicht gedacht werden könne, beweisen andererseits auch wieder die Verse 627 und 628; sie lauten:

ὡς εἰπὼν ὁ μὲν (feratles) ἔβη δόμον "Αιδος εἴσω

αὐτὰρ ἐγὼν αὐτοῦ μένον ἔμπεδον, εἴ τις ἔτ ̓ ἔλθοι.

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Herakles geht also wieder zurück in das innere Schattenreich, Odysseus hingegen befindet sich noch immer an derselben Stelle. Schon mit Rücksicht auf diese Schwierigkeit wird die von den Alexandrinern vollzogene Athetese begreiflich; 1) bedenklicher ist aber der Umstand, dass für alles, was Odysseus weiter noch gesehen haben will, in der Unterwelt, wie Homer sie schildert, kein Plag ist. Erklärt man die auf Minos begügligen Borte: οἱ δέ μιν ἀμφὶ δίκας εἴροντο άνακτα (Sers 570) in dem Sinne: Jene aber - die Todten ihn umgebend, fragten den Herrscher nach ihren Rechten oder ließen sich Recht sprechen 2) (eine andere Deutung wird aber kaum möglich sein), so hätten wir im Hades ein Nichteramt in vollkommenster Form; ein solches ist aber der homerischen Anschauung noch völlig fremd und stimmt in keiner Weise mit dem Wesen der Psychen, wie wir es bisher kennen gelernt haben. Dasselbe gilt von dem gewaltigen Jäger Orion, dem Nimrod der Bibel, welcher die Schatten des Wildes, das er im Leben erlegt hat, jest drunten. im Hades über die Asphodillwiese hintreibend dargestellt wird. Man müsste darin offenbar ein Nachbild seines Lebens erkennen, aber jenes Lebens, von dem der homerische Dichter noch nichts weiß; das Bild gehört einer späteren Zeit an. 3) Es folgen nun drei Typen von Büßenden in der

1) Nigsch 1. c. S. 308; dagegen Ameis, Anh. II. S. 72.

*) Ameis: zur Stelle; Nitsch 1. c. S. 312.

3) Nitsch 1. c. S. 312.

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