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Beiträge

zu den

19 grösseren quintilianischen Deklamationen.

Von

C Hammer,

K. Gymnasialprofessor.

Programm

des

K. Wilhelms-Gymnasiums in München

für das Schuljahr 1892/93.

München 1893.

Druck von H. Kutzner, Frauenstrasse 20.

I.

Die Entstehung der quintilianischen Deklamationen.

Wollte man unter den Schätzen des klassischen Altertums nur nach dem greifen, was Herz und Geist befriedigt und ergötzt, so dürfte man getrost Quintilians Deklamationen sowie Senecas Suasorien und Kontroversien im Staube der Bibliotheken in ihrer verwahrlosten Überlieferung liegen lassen. Allein wer das geistige Leben des Altertums auch in seinen Auswüchsen und in seiner Entartung kennen lernen will, dem bieten die genannten rhetorischen Übungen eine dankbare Fundgrube überraschender neuer Gesichtspunkte.

Die römische Beredsamkeit hatte ihren nationalen kernigen und geradsinnigen Charakter eingebüsst, als in der Volksversammlung nicht mehr das überzeugende Wort, sondern Parteigeist und klingende Beweggründe den Ausschlag bei der Abstimmung gaben. Mit der Ausdehnung des Reiches und der damit zusammenhängenden Bereicherung des Staates sowie besonders Einzelner war auch der Geschmack an glänzenden Darstellungen griechischer Kunst und die Freude an äusserlicher Gewandtheit und Zierlichkeit eingezogen. Das bekannte Lob Catos bei Sallust (Catil 54. 6): ,Cato esse quam videri bonus malebat' war nicht bloss hinsichtlich der Moral ins Gegenteil umgeschlagen, sondern die Sucht nach blossem äusseren Schein zur Erreichung eines bestimmten Zweckes liess selten bei einem Römer den wahren inneren Drang nach gründlicher geistiger Bildung und Gesittung aus idealer Liebe zum Wahren, Guten und Schönen aufkommen. Diese Wahrnehmung gilt besonders von der Redekunst. Denn die Behauptung, man brauche keine Regeln der Kunst im einzelnen, sondern die Macht der Überzeugung und die schlagenden Gründe der guten Sache geben die passenden Worte dem wahrheitsliebenden Redner, lautet

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wohl schön, konnte aber von dem Urheber selbst nicht mehr befolgt werden.') Es war ja für die meisten Redner von Beruf so angenehm, nach einem gelernten Schema über ein beliebiges Thema in der Volksversammlung, im Senate oder vor Gericht möglichst wortreich und glänzend für und wider sprechen zu können, selbst wenn oder gerade wenn die Sache nicht gut war oder der wahrhaft überzeugenden Gründe ermangelte. So kam cs, dass mit der Überhandnahme des griechischen Einflusses und dem Sinken des allgemeinen politischen Lebens Ronis am Ende der Republik und dem Beginne der Kaiserzeit rhetorische Schulen 2) wie aus dem Boden hervorschossen und allgemeinen Zulauf von der römischen Jugend bekamen. Redner und Deklamator ward gleichbedeutend, und wenn auch einsichtsvolle Männer die Schulberedsamkeit bloss als Vorschule für das öffentliche Leben betrachteten, so erhielt doch der Geist schon in der Schule die entschiedenste Richtung auf künstlerisches Gepränge und gesuchte Künstelei, so dass unter dem Übergewichte der schulmässigen Kunstvorschriften die natürliche Kraft der alten gediegenen Rede, wie Tacitus in seinem Dialogus klagt, völlig erlag. Es bildete sich allmählich eine gewisse Tradition und feste Norm der Regeln und Themen, deren Bearbeitung und Vortrag, sei es in lateinischer oder griechischer Sprache3), von den Schülern verlangt wurde;

1) Quint. II. 15. 1:,alii malos quoque viros posse oratores dici putant, alii, quorum nos sententiae accedimus, nomen hoc artemque, de qua loquimur, bonis demum tribui volunt.' III. 4 möchte er wohl einen eigenen Weg in der Behandlung der Rhetorik überhaupt einschlagen, aber ,tutissimum est auctores plurimos sequi et ita videtur ratio dictare.'

2) Die Vortragsräume der Rhetoren hiessen ditpov, ebenso im Lateinischen theatrum; solche,Theater' eigens für Deklamatoren gab es zu Smyrna, zu Athen mehrere, in Pompeji, in Rom (Athenaeum, scholae Capitolinae). Daneben liehen Reiche Privatsäle her; auch die Kurie und Basiliken dienten frühzeitig diesen Vorträgen der Deklamatoren und ihrem Unterrichte (Cressolle, theatr. rhet. III. 12, dagegen Westermann, röm. Ber. 271 n. 23).

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3) Schon Cicero sagt von sich Brut. 310: ,commentabar declamitans sic enim nunc loquuntur saepe cum M. Pisone et cum Q. Pompeio aut cum aliquo cotidie, idque faciebam multum etiam Latine, sed Graece saepius. Doch ist bei ihm declamatio noch s. a. declamandi actio; erst später, sicher seit Quintilian, bedeutet declamatio die ausgearbeitete fingierte Rede im Gegensatze zur wirklichen Rede (Bonnell, Lex. Quint. s. v.). Die Gleichstellung der griechischen und lateinischen Rhetoren in Rom scheint erst unter Vespasian

darauf gab dann wohl der Rhetor selbst als Muster zur Nachahmung eine eigene Ausführung des vorgelegten Themas zum besten. Bezeichnend für diese Übungen ist die ersichtlich wahrheitsgetreue, wenn auch etwas boshafte Schilderung Juvenals Sat. VII. 150:

Declamare doces? o ferrea pectora Vetti,

cum perimit saevos classis numerosa tyrannos.

nam quaecunque sedens modo legerat, hacc eadem stans proferet atque eadem cantabit versibus isdem.

occidit miseros crambe repetita magistros;

quis color et quod sit causae genus atque ubi summa
quaestio, quae veniant diversa e parte sagittae,

nosse velint omnes, mercedem solvere nemo.

Wie bedeutend der Einfluss der rhetorischen Schulen war, und wie dringend die Notwendigkeit derartiger Übungen in der sogenannten Sophistik der Kaiserzeit galt, kann man schon aus dem äusseren Umstande ersehen, dass von staatswegen Besoldungen für griechische und lateinische Rhetoren ausgeworfen wurden.') Die Themen waren oft weit hergeholt oder geschmacklos. So führt man als Titel von panegyrischen Deklamationen) an: Lob des Salzes, der Mäuse, der Fliege, des Flohes, der Wespe3), des viertägigen Fiebers, des Podagra, der Taubheit, der Blindheit, des Schlafes und Todes; andere lobten Schaf, Esel, Käfer, ja sogar den Topf.

Besser dem Inhalte nach, aber ebenso durch künstliche Verknüpfung zugespitzter Formen nach bestimmten Vorschriften zu erfolgt zu sein (Suet. Vespas. 18), doch wurde der griechische Unterricht vor. gezogen, denn ,existimabant (sc. doctissimi homines) Graecis exercitationibus ali melius ingenia posse' (Suet. clar. rhet. 2). Über die Behandlung gleicher Themen in verschiedenen Schulen geben Senecas Suasoriae und Controversiae Aufschluss. Man vergleiche ausserdem Quint. declam. min. 251 und Senec. II. 5, Quint. 349 und Sen. II. 3, Quint. 354 und Sen. VI. 6, Quint. 360 und Sen. IV. 4 u. a. Die Sammlung der Schulthemen, wie sie bei lateinischen und griechischen Schriftstellern (Rhetoren) angedeutet werden, wäre eine dankbare und dankenswerte Arbeit.

1) Suet. Vespas. 18:,primus e fisco Latinis Graecisque rhetoribus annua centena constituit. Vgl. Westermann, röm Ber, § 80 ff.

2) Cressolle, theat. rhet. III. 9.

*) Klitarch lobte sie ὑψηλῶς καὶ ἐπηρμένως, ὡς εἴπερ περὶ λέοντος ἔγραψε τοῦ Νεμέας εἴτ ̓ οὖν γε ταύρου τοῦ Κρητὸς ἐκείνου τοῦ πυρπνόου (Tetzes, chil. 7).

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