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dicentis: Non tibi Tyndaridis facies invisa Lacaenae." Aber es kann Servius trotzdem früher den mit sublati synonymen Ausdruck obliti gebraucht haben, wie er in der Vita, wo er von unserer Stelle spricht, wiederum einen anderen Ausdruck, nämlich detractos, gebraucht hat. Letztere Stelle lautet: „Augustus vero, ne tantum opus periret, Tuccam et Varium hac lege iussit emendare, ut superflua demerent, nihil adderent tamen. Unde et semiplenos eius invenimus versiculos ut Hic cursus fuit; et aliquos detractos, ut in principio; nam ab armis non coepit, sed sic: Ille ego

cano.

Et in secundo hos versus constat esse detractos: iamque... ferebar.“ Servius spricht also an dieser Stelle davon als von einer bekannten Thatsache (constat) und man muss ihm gewiss glauben. Zweifelhaft bleibt nur, ob Tucca und Varius auf eigene Faust diese Ausscheidung vornahmen oder ob schon Vergil selbst in seiner Handschrift seine Absicht, diese Verse zu tilgen, ersichtlich machte. Ich entscheide mich für das letztere, ohne jedoch mit Weidner anzunehmen, dass Vergil diese Verse beim ersten Entwurf des II. Buches schnell (?) hinwarf (?), dann aber sie sofort (?) wieder tilgte." Diese Verse sind ja aber (wie aus der in denselben in hohem Masse durchgeführten Alliteration und sonstigen formalen Symmetrie hervorgeht) sorgfältig ausgearbeitet. Ich nehme vielmehr an, dass der Dichter erst nachträglich bei der Ausarbeitung des sechsten Buches sich entschloss, der Helena in jener Schreckenssucht eine andere Rolle zuzuweisen, als er im zweiten Buche gethan hatte. Und zwar schloss sich der Dichter im VI. Buche theilweise an die ältere Sage an, *) theilweise steigerte er durch eigene Invention die Ruchlosigkeit der Helena.**) Ich bin

*) Aen. VI 517 ff. illa chorum simulans euantis orgia circum

ducebat Phrygias; flammam media ipsa tenebat
ingentem et summa Danaos ex arce vocabat

ist zu vergleichen mit Tryphiod. Hal. II. 495 f. und 512 f.
παννυχίη δ' ἑτάροισιν ὑπὲρ θαλάμοιο καὶ αὐτὴ

εὐειδὴς Ἑλένη χρυσέην ἐπεδείκνυτο πεύκην.

Ich glaube, dass beides aus einer und derselben älteren Quelle geschöpft ist. **) Hieher rechne ich die Verse Aen. VI 523 f.

egregia interea coniunx arma omnia tectis

amovet et fidum capiti subduxerat ensem cet.

nun weiter der Meinung, dass Vergil bei der Ausarbeitung des sechsten Buches selbst die Unverträglichkeit dieser Scene mit der im zweiten Buche gegebenen Darstellung fühlte, dass er sich jetzt erst entschloss, jene Partie des zweiten Buches aufzugeben, dass er aber vorläufig diese seine Absicht in dem Texte des zweiten Buches sich irgendwie ad futurum usum anmerkte, ohne die dadurch nothwendig werdenden Aenderungen im zweiten Buche durchzuführen. An der späteren Durchführung dieser Aenderungen hinderte ihn der Tod. Dass Vergil den Widerspruch zwischen II 567-588 und VI 511 ff. nicht sollte gemerkt haben, halte ich für durchaus unwahrscheinlich. Dieser Widerspruch ist sehr auffallend*) und er betrifft nicht etwas nebensächliches, sondern einen Punkt, der dem Dichter gewiss wichtig erschien, nämlich das Benehmen der Helena während der Katastrophe. Auch hat ja die Erzählung der letzten Schicksale des Deiphobos, welche ihm selbst im sechsten Buche in den Mund gelegt wird, augenscheinlich den Charakter eines Nachtrages zum zweiten Buche, eines Nachtrages, der dem Dichter nothwendig erschien; und unter solchen Verhältnissen ist es gar nicht denkbar, dass ihm die betreffende Scene des zweiten Buches nicht hätte lebhaft vor Augen schweben sollen; wenn aber dies der Fall war, dann kann an ein Uebersehen des Widerspruches nicht gedacht werden.

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*) Allerdings hat man auch diesen Widerspruch auf exegetischem Wege zu beseitigen versucht. Ladewig sagt zu VI 524: Wenn die Helena nach Aen. II 567 die Rache der Griechen fürchtend im Tempel der Vesta sass, so steht diese Angabe mit der hier von ihr berichteten Thätigkeit nicht in Widerspruch; denn hier wird erzählt, wie sie die Trojaner und den neuen Gemahl verrieth, Aen. II 567 aber angegeben, welche Gefühle sich ihrer nach vollbrachtem Verrathe bemächtigt hatten." Dass dieser Versuch kein gelungener ist, lehrt aber ein Blick auf VI 520 summa Danaos ex arce vocabat und VI 525 intra tecta vocat Menelaum et limina pandit cet. Nachdem sie dem Menelaos das Haus verrätherisch geöffnet hatte scilicet id magnum sperans fore munus amanti, war sie ja in der Macht und unter dem Schutze der Griechen und brauchte nicht am Altar der Vesta furchtsam Schutz zu suchen. Uebrigens wie sollen sich denn die eben angeführten Stellen VI 520 und 525 vertragen mit II 572, wo die Furcht der Helena vor den Griechen und Menelaos so nachdrücklich hervorgehoben wird: et poenas Danaum et deserti coniugis iras praemetuens?

Wenn nun Tucca und Varius die Verse II 567-588 tilgten, so respectierten sie damit allerdings die Intention des Dichters, ohne jedoch selbst weiter helfen und alles in Uebereinstimmung bringen zu können. Die bessere Recension des Vergiltextes folgte der Autorität dieser beiden Männer; doch erhielten sich jene von Vergil ursprünglich gedichteten Verse anderweitig.

Aen. II 594 ff.

nate, quis indomitas tantus dolor excitat iras?
quid furis aut quonam nostri tibi cura recessit?
non prius aspicies, ubi fessum aetate parentem
liqueris Anchisen?

Die Worte aut quonam nostri tibi cura recessit hat Heyne nicht eben unrichtig, aber doch mit zu enger Beschränkung auf Anchises erklärt: „nostri cura pietas esse videtur matri Veneri praestanda in eo, ut Anchisen, ab ipsa amatum, tueatur ac servet." Richtiger hat wol schon Servius die Worte aufgefasst. Wenn er nämlich sagt „Nostri cura; et hoc loco, ut solet, unam se de Aeneae familia facit," so ist daraus ersichtlich, dass er nostri nicht im Sinne von mei bloss auf Venus bezog, sondern dass er den Plural nostri in strengstem Sinne nahm, weil eben Venus sich mit zur Familie rechnete (wie an der auch schon von Servius citirten Stelle I 251 unius ob iram prodimur atque Italis longe disiungimur oris, ebenso I 252 sic nos in sceptra reponis). Es sind also jene Worte nicht bloss auf 596 f., sondern auf 596-600 zu beziehen. Peerlkamp's Einwendung „fateor me non intelligere, in qua re Aeneas Venerem non curaret, pietatem erga illam oblivisceretur. De amore Veneris et Anchisae, confecti aetate parentis, ridiculum est" ist natürlich nicht nur schief, sondern auch — unzart. In formeller Hinsicht hat Thiel verglichen Georg. IV 324 aut quo tibi nostri pulsus amor (wo aber nostri natürlich verschieden ist von dem nostri an unserer Stelle). Aehnlich ist auch VIII 395 fiducia cessit quo tibi, diva, mei? Es schwebte wol dem Dichter die homerische Phrase πῆ δή τοι μένος οἴχεται (Ε 472)

vor.

Sehr zu beachten ist übrigens der Gegensatz, in welchem

zu diesen Worten die weiter folgende Aeusserung der Venus 599 steht: ni me a cura resistat.

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Ueber prius im V. 596, das die Erklärer gewöhnlich unberücksichtigt lassen, bemerkt Thiel: „prius, nämlich quam haec curas, quae tantas excitant iras." Es ist aber die Bedeutung von prius nicht so zu urgiren, als ob damit Venus ihrem Sohne frei stelle, später vielleicht das zu thun, was er jetzt vorhabe; sondern prius ist im Sinne des genaueren potius eher, vielmehr, lieber. Uebrigens ist die Frage non prius adspicies ähnlich dem griechischen οὐκ ἂν φθάνοις ἐφορῶν; auch kann man οὐ θᾶσσον οἴσεις (Soph. Trach. 1173) vergleichen.

Aen. II 644.

ipse manu mortem inveniam; miserebitur hostis

exuviasque petet.

Manu hat verschiedene Erklärungen gefunden, von denen keine ganz befriedigt. Dass man schon im Alterthum über die Stelle nicht glatt hinweggieng, zeigt der gekünstelte Erklärungsversuch des Servius „ego inveniam mortem manu hostis; ille miserebitur et petet exuvias" vorausgesetzt dass diese Erklärung (wie Ribbeck meint) wirklich darauf hinweist, dass Servius die Stelle grammatisch aufgefasst habe: ipse manu mortem inveniam (miserebitur) hostis (Genitiv). Es wäre nämlich auch denkbar, dass in der Erklärung des Servius hostis bloss dem Sinne nach zu manu hinzugefügt ist und dass sodann Servius ille miserebitur statt hostis miserebitur sagte.

Wie die Worte überliefert sind, wäre die natürlichste Erklärung des Satzes ipse manu mortem inveniam, wenn man sich eben bloss auf diesen Satz beschränken würde, die, an den Entschluss des Anchises sich selbst zu tödten, zu denken (= ipse manu mea mortem inveniam). Aber diese Erklärung ist unzulässig, weil Aeneas in seiner Rede 657 ff. einen solchen Entschluss des Vaters nicht erwähnt, sondern nur sagt: „si .... sedet hoc animo perituraeque addere Troiae teque tuosque iuvat: patet isti ianua leto iamque aderit . . . Pyrrhus, patrem qui obtruncat ad aras."

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Auch verträgt sich mit diesem Sinne der Worte nicht das folgende miserebitur hostis exuviasque petet, was vielmehr darauf hinweist, dass im vorausgehenden Satze von dem Tode des Anchises durch fremde Hand die Rede ist.*)

Nun kann man aber manu auf keinen Fall von der Hand des Feindes verstehen. Und so hat denn Ladewig die Erklärung versucht, dass manu (eig. durch meine Hand) hier bedeute „durch die Werke meiner Rechten" und dass es sich auf den geleisteten Widerstand beziehe. Im Anhange bemerkte Ladewig dazu: „Wenn Anchises sich selbst durch seinen dem Feinde geleisteten Widerstand (manu) den Tod zuziehen will, so steht dieser Entschluss nicht geradezu in Widerspruch mit der Lage, die er nach dem vorhergehenden Verse eingenommen hat; auch der römische Senator, der nach der Schlacht an der Allia auf seinem Stuhle sass und den ihn neckenden Gallier mit seinem Stabe schlug, zog sich seinen Tod manu sua zu." Aber wenn man manu auf „den geleisteten Widerstand" bezieht, so könnte darunter füglich nur der Widerstand mit den Waffen in der Hand gemeint sein, und man müsste annehmen, dass Anchises, wenn auch ein schwacher Greis, doch ähnlich wie Priamus den Kampf versuchen wolle.**) Aber wie kann er, wenn er eine solche Absicht hatte, unmittelbar vorher die Lage eines Todten annehmend sagen sic o sic positum adfati discedite corpus? Diese Worte schliessen vielmehr das Vorhandensein jeder solchen Absicht (auch der von Ladewig angenommenen) aus.

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Da nun das Wort manu, wohin man sich auch wenden mag, Schwierigkeiten verursacht und ungeachtet vieler Versuche noch

*) Gossrau sucht freilich die Erklärung von der Selbsttödtung festzuhalten: ,,Itaque videtur dicere Anchises: Ipse me interficiam, hostis autem, qui sua manu necatum videbit senem, miserebitur nec insultabit aut foedabit mortuum, sed exuviis contentus abibit. Facile autem careo sepultura.“ Aber abgesehen davon, dass die Rede des Aeneas diese Erklärung nicht zulässt, ist doch wol nicht zu bezweifeln, dass das miserebitur hostis von dem Gnadenstosse des Feindes zu verstehen ist.

**) II 509 ff. und 544 ff.

sic fatus senior telumque imbelle sine ictu
coniecit, rauco quod protinus aere repulsum
ex summo clipei nequiquam umbone pependit.

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