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Fünftes Kapitel.

Die Gipfelung des Werkes im «Esprit général».

Herrscher über alles Irdische ist das ,,Klima“, das physische Schicksal. Aber es herrscht doch nicht ganz despotisch, sondern sozusagen wie der Montesquieusche Monarch, der sich den von ihm selber eingesetzten Zwischengewalten beugt. Das Klima bestimmt den Staatsbau, es bestimmt die Bräuche der Einzelnen, zu einem hohen Teil auch ihr sittliches und ihr religiöses Empfinden, aber all diese Dinge wirken nun ihrerseits auf das „Klima“ zurück und können seinen Einfluß mildern, mattsetzen, ja sogar in sein Gegenteil verkehren; dies letzte besonders dann, wenn zu der klimaerzeugten Denk- und Empfindungsweise noch irgendeine jener vom Klima unabhängigeren seelischen Eigenheiten oder «bizarreries » oder «superstitions » tritt.

Und hier liegt nun die Erlösungsmöglichkeit für den Gesetzgeber. Eine ungeheuer schwer zu verwirklichende, eine im Erfolg sehr bescheidene, aber doch eine Möglichkeit. Das Klima kerkerte den Legislator in die engste Zelle; jetzt wird er im schlimmsten Fall ein, zwei Schritte Bewegungsfreiheit erhalten, im günstigsten ein gutes Stück Weges zurücklegen können dem idealen Ziele der Menschheitsbeglückung entgegen. Indem er nämlich das ganze Gewirr jener den Einzelnen und die Gesellschaft bestimmenden Faktoren durchforscht und nun die guten, ich meine: die für das Staatsgedeihen nützlichen gewissermaßen unterstreicht, sie gegen die staatszerstörenden ausspielt.

Montesquieu nennt den Geisteszustand eines Volkes, wie er sich aus der Gesamtheit jener Faktoren ergibt: den «Esprit général ». Was man im vorigen Buch an fränkischer Volkseigenart aus dem Boden hat hervorwachsen sehen, war schon «Esprit général », aber erst im Keim. Wer ihn ganz zeigen will, muß neben den Boden nun auch gewichtig stellen, was wohl seinen Ursprung zum größten Teil dem Boden selber verdankt, dann aber doch als eigenes Wesen sich entwickelt hat.

Wenn es Montesquieu gelingt, eine solche Entwirrung der buntesten Verknäultheit anzubahnen, und anzudeuten, wie man die gegebenen Fäden ein wenig vorteilhafter ordnen kann, so hat er die Aufgaben seines «Esprit des Lois » gelöst: objektiv hat er dann gezeigt, woraus der Geist der Gesetze entsteht, und wie der Gesetzgeber in den Schicksalsgang der Dinge, sei es auch noch so wenig, eingreifen kann; subjektiv hat er den Drang seines Wesens zu helfen und die Überzeugung von der Schicksalsmäßigkeit alles Bestehenden in Einklang gebracht, in bescheiden gedämpften freilich.

Die Aufgabe erfordert zugleich größte Ausdehnung und äußerste Einschränkung. Größte Ausdehnung, denn all die Vielheit des vorher in Sonderkreisen Behandelten muß ja nun ineinanderfließen; es war nur durch das Mittel der Abstraktion getrennt worden, und sein natürlicher Zusammenfluß formt eben den Esprit général. Äußerste Einschränkung: denn alle Anschauung, alles Verstehen würde sonst im Chaos der Erscheinungen ertrinken.

Mit dem frischesten, siegesgewissesten Wagemut des Künstlers, der die letzten vollendenden Meißelhiebe tut, begibt sich Montesquieu an das Werk.,,Der Stoff hat große Ausdehnung," beginnt Buch XIX.,,In der Fülle der Gedanken, die mir vor den Sinn treten, werde ich mehr auf die Verknüpfung der Dinge als auf die Dinge selbst achten.

Il faut que j'écarte à droite et à gauche, que je perce, et que je me fasse jour »“ (1).

Der Auftakt aber dieser neuen, dieser im letzten Sinn entscheidenden Betrachtungsreihe ist ein Dämpfen aller legislatorischen Hoffnungen. Das beste Gesetz hilft nichts und richtet nur Schaden an, wenn es auf unvorbereitete Menschen stößt. Die Germanen haben die Rechtsprechung des Varus unerträglich gefunden, und der gleiche Haß gegen das römische Recht taucht mehrfach in der Antike wieder auf. Ganz so geht es auf politischem Gebiete zu. Ein venetianischer Reisender erregte am Ende des 16. Jahrhunderts das unauslöschliche Gelächter eines exotischen Herrschers, dem er erzählte, daß Venedig keinen König besitze. «Quel est le législateur (fragt Montesquieu resigniert) qui pourroit proposer le gouvernement populaire à des peuples pareils ?» (2). Und noch eine zweite Dämpfung, die freilich dem moralisch ungehemmten Staatsmann zugleich Ermutigung bedeutet: Nicht nur das Tatsächliche herrscht, sondern neben, wenn nicht gar über ihm, herrscht die Meinung. Man erinnere sich, wie Montesquieu die bürgerliche Freiheit als,,die Meinung, die man von seiner Sicherheit hat" definierte, wie er, für indirekte Steuern eintretend, das betreffende Kapital: «Comment on conserve l'illusion » überschrieb, und man wird erkennen, daß er selber aus dieser dem Ethischen gegenüber vorhandenen Dämpfung starken Nutzen gezogen hat. Er erklärt sich hier an dem Hassenswertesten, das er kennt, an der Tyrannei" (3). Zwei Arten der Tyrannei seien zu unterscheiden, die tatsächliche der Willkürherrschaft und die «tyrannie d'opinion », die in einer Verletzung der Denkart des Volkes durch die Regierenden bestehe. Die Römer der Frühzeit vertrieben die Könige aus Haß gegen den Despotismus. Die späteren Römer ließen sich Cäsars und Augustus' Willkürherrschaft bieten, sofern diese tatsächlichen Könige nur den Schein des Republikanischen, «l'extérieur de l'égalité», wahrten. Die Unzufriedenheit über

einige harte Gesetzerlässe des Augustus legte sich, als er einen beliebten aus Rom vertriebenen Schauspieler zurückberief. Der eigentliche Freiheitssinn war eben im Volk erloschen, und wenn man nur den äußeren Brauch, wenn man die Meinung frei zu sein schonte - aber auch nur dann —, so konnte man ein Tyrann sein, ohne es zu scheinen, ohne Haß zu erregen.... Wieviel mag der aufsteigende Napoleon dieser Betrachtung verdankt haben!

Dann erst stellt Montesquieu die Definition des «esprit général heraus (4): plusieurs choses gouvernent les hommes: le climat, la religion, les lois, les maximes du gouvernement, les exemples des choses passées, les mœurs, les manières; d'où il se forme un esprit général qui en résulte. Das Klima also steht an erster Stelle, aber Montesquieu fügt sogleich hinzu, daß bei manchen Völkern verschiedene der aufgezählten Faktoren das Übergewicht besitzen und die anderen schwächen. Nur rohe Völker sind ganz vom Klima geleitet, andere von ihren Bräuchen, andere von ihrem Begriff der Sittlichkeit, andere von ihren Gesetzen. Der menschliche Geist hat sich also dem physischen Schicksal entgegenzustemmen vermocht, und dem Gesetzgeber ist die Möglichkeit des Einwirkens gegeben.

Aber wieder und nun erst recht dringt Montesquieu auf Behutsamkeit. Wer auf ein Volk einwirken will, darf den einmal geformten «esprit général » nicht etwa gewaltsam umändern, er muß ihn im Gegenteil schonen, muß alle gewünschten Wirkungen aus ihm selber ziehen. Die warnenden Überschriften der Kapitel 5 und 6 lauten: «Combien il faut être attentif à ne point changer l'esprit général d'une nation » und «Quil' ne faut pas tout corriger ». Ihr Inhalt ist die Charakteristik des französischen Volkes, wie sie in den Lettres Persanes» gegeben war, als des leichtsinnigen, nicht fehlerlosen, aber liebenswürdig geselligen Volkes, das «die frivolen Dinge ernsthaft und die ernsthaften heiter betreibt »; dazu der dringende Rat,

an dieser Volksart nicht herumzumodeln, da das Staatsganze reichen Nutzen aus ihr zu ziehen vermöge.... Wie seltsam berührt dieser Rat hier, wenn man bedenkt, wie sehr gerade Montesquieu das leichte Volk ins Römertum getrieben, und wie sehr dadurch der Verehrer des Maßes und der milden Menschlichkeit an den ungezählten Schafotten der Revolution mitgezimmert hat. Ich bemühe mich immer, die subjektive Tragik des «Esprit des Lois » herauszuarbeiten, die in den Widersprüchen des Montesquieuschen Wesens liegt; größer noch ist die objektive Tragik, die aus dem Kontrast zwischen der angestrebten und der tatsächlichen Wirkung des Buches fließt.... Wie viel der leichten Art der Franzosen abzugewinnen ist, stellt Montesquieu ins Licht, indem er sein Volk (ohne es ausdrücklich zu nennen) den Athenern vergleicht (7). Die Athener haben in heiterer, leichter Art Großes geleistet, die Lacedämonier mit schwerfälligem Ernst. Wehe dem Staatsmann, der das Wesen dieser Nationen verkannt hätte! «On n'auroit pas plus tiré parti d'un Athénien en l'ennuyant, que d'un Lacedémonien en le divertissant. » Die Vorteile des leichten geselligen Wesens werden knapp skizziert, werden dem Kenner der «Lettres Persanes» in drei, vier Strichen ins Gedächtnis zurückgerufen: Bildung des Geschmacks, freilich auf Kosten der Sittlichkeit, Freude am Schmuck, der den Einzelnen vor den andern auszeichen, Freude an wechselnder Mode, die durch gemeinsamen Schmuck alle Einzelnen über sich selber erhebe, durch alles das eine ständige Anregung und Bereicherung des Handels und der Industrie (8). Gewiß, das stützt sich alles auf die menschliche Eitelkeit, aber für den Staat erwachsen eben aus der Eitelkeit «des biens sans nombre ». Eine an sich sehr viel edlere Eigenschaft dagegen bedroht ihn mit Gefahren: der Stolz (9). «La paresse est l'effet de l'orgueil; le travail est une suite de la vanité: l'orgueil d'un Espagnol le portera à ne pas travailler; la vanité d'un François le portera à savoir travailler mieux que les autres.» Die

Klemperer, Montesquieu. II.

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