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er hatte die alten Dichter zwar, wie wir wissen, ziemlich ́fleißig `studiert, allein mehr mit der Absicht Stoffe zu Erzählungen aus ihnen zu suchen, als seinen Geschmack an ihnen zu bilden. Chaucer steht daher auch als Dichter ganz im Mittelalter, während Petrarca den Uebergang zu der neuen Zeit bildet.

Daß Chaucer auch mit einigen französischen Romanen bekannt war, leidet keinen Zweifel, obwohl er sie nur selten anführt und vielleicht auch nur selten benugt hat. Seine Kenntniß des Troischen Krieges (C. T. 15147) schöpfte er wahrscheinlich aus Benoit's Roman de Troye, obwohl er dieselbe auch aus Guido dalle Colonne, der den Benoit ebenfalls benugte, geschöpft haben kann. Die Erwähnung von La belle Isaude House of fame III. 707. und von Launcelot du lake C. T. 15218 deuten auf seine Bekanntschaft mit den Romanen des Chrétien von Troyes hin; eine Anspielung auf den Roman de Roncevaux findet Tyrrwhitt in dem Namen einer saracenischen Gottheit Termagaunt C. T. 13741, der in jenem Roman öfters vorkommt.

Am wichtigsten für Chaucer waren jedoch die Lais, fabliaux et contes, erstere ernsthaften, legtere gewöhnlich scherzhaften Inhalts. Von beiden finden sich zahlreiche Nachahmungen bei Chaucer. Die lais waren zum Theil Uebersegungen von Bretagnischen Dichtungen, mit denen die Franzosen und Engländer, namentlich durch die Bearbeitungen der Marie de France, welche meistens in Eng land lebte, bekannt wurde. So sagt auch Chaucer in der Einleitung zu des Freisassen Erzählung Vers 11021 ff.

Die alten Britten vordem, brav und bieder,

Die brachten Abenteuer viel in Lieder,
In alter Brittensprach' und Neimesklang,
Mit Musik meist begleitend den Gesang.

Auch lasen nach Belieben sie darin

Und eins von diesen hab' ich noch im Sinn
Erzählen will ich es so gut ich kann.

Das französische Lai aber nach welchem des Freisaffen Erzäh lung bearbeitet ist, ist meines Wissens bis jest nicht aufgefun den worden. (Vgl. Tyrrwhitt Anm. zu C. T. 11021 und Discourse to the C. T. Anm. 24). Dieselbe Erzählung findet sich übrigens bei Boccaccio Dec. X. 5. und in Filocopo im 5. Buche. Wahrscheinlich schöpfte Boccaccio aus derselben Duelle wie Chaucer.

Die Lais und fabliaux nach welchen Chaucer seine Erzählungen gearbeitet hat, sind nicht immer bekannt; wir dürfen vermuthen, daß ein großer Theil der Canterbury - Erzählungen auf franzö

fischen Quellen fußen, obwohl wir diese Quellen nur zum kleinen Theile kennen. Von des Vogts Erzählung nahm man früher Boccacio Dec. IX. 6.) als Quelle an; Tyrrwhitt machte zuerst auf das Fabliau de Gombert et des deux clercs von Jean de Boves aufmerksam, und seitdem hat man eben so allgemein dieses Fabliau für die Quelle gehalten, bis Thomas Wright vor wenigen Jahren in den Anecdotis literariis das wirkliche französische Original aus einer Berner Handschrift mitgetheilt hat, wodurch sich denn auch meine Vermuthungen über Chaucers Verdienst bei dieser Erzählung (f. meine Uebersegung S. 153 ff.) als unrichtig erwiesen: das von Wright mitgetheilte Fabliau ist eine weit bessere Erzählung als das von Jean de Boves und stimmt mit der Erzählung Chaucers in den Hauptpunkten überein, sie hat unter Chaucers Händen unzweifelhaft sehr gewonnen, aber doch nicht in dem Maße als man früher, als man nur Jean de Boves kannte, vermuthen mußte.

Die Erzählung des Priesters der Nonne scheint einer Sammlung der Fabeln der Marie de France entlehnt, obwohl sie bedentend länger ist; vielleicht lag noch ein ausgedehntes französisches Gedicht zu Grunde. Des Schiffers Erzählung stimmt im Stoff mit Boccaccio Dec. VIII. 1., ist aber wahrscheinlich aus derselben französischen Quelle geschöpft, aus der Boccacio die feinige hat. Des Müllers Erzählung findet sich beim Italier Masuccio und dürfte eben so auf französische Urschrift zuruckzuführen sein; eine Masse anderer Erzählungen (z. B. des Bettelmönchs, des Pedells u. a. m.) haben höchst wahrscheinlich ebenfalls denselben Ursprung, vielleicht daß eine genauere Durchforschung der Bibliotheken uns noch manche französische Quellen Chaucers nachweist.

Ueber das was Chaucer dem Italischen verdankte, habe ich, wie schon oben gesagt, bereits in den Bl. für literarische Unterhaltung gesprochen. Aus eigentlich englischen Quellen entnahm er nur wenig, am meisten noch von seinem Freund Gower, dem er mehrere Erzählungen, wie die des Advocaten und der Frau von Bath nacherzählte, nicht ohne an verschiedenen Stellen ihn wegen schlechter Erzählungsweise zu tadeln.

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Sehen wir nun Chaucers Werke noch einmal durch, so werden wir nur einen kleinen Theil derselben sein Eigenthum nennen können. Die größern Gedichte, die Canterbury - Erzählungen, Troilus, Cressida, der Roman von der Rose und die Legende der guten Weiber sind nur Bearbeitungen fremder Gedichte und selbst unter seinen kleinern Gedichten findet sich kaum eins, in dem nicht

wenigstens ein Theil anders woher als aus Chaucers Dichtergeiste entsprungen wäre. Wenn uns dies vor einer Ueberschägung Chaucers gewiß bewahrt, so darf es uns doch nicht dahin bringen, seinen Werth zu gering anzuschlagen; es bleibt ihm immer noch genug, wodurch er den Namen eines Dichters mit dem vollsten Rechte verdient, in Schilderungen der äußern Natur und aller Kunstgegenstände mag er immerhin gern an fremde Muster sich anlehnen, seine philosophischen Ansichten mag er aus allen Weltgegenden zusammenstoppeln, seine tiefe Kenntniß des menschlichen Innern allein wird schon hinreichen, ihn zu einem Dichter zu stempeln, dem die schärfste Kritik seinen hohen Werth nicht nehmen kann.

Dessau.

E. Fiedler.

Mystifikationen der Goetheliteratur.

Manche unschädliche Myftifikationen, zu denen wir vor

allen die Schrift,, Goethe als Mensch und Schriftsteller; aus dem Englischen von Friedrich Glover" rechnen, welche eine Spekulation ihres Verlegers ist, des Buchhändler Vogler (Glover ist bloßes Anagramm), bedürfen feiner weitern Würdigung, dagegen gibt es andere, welche nur zu geeignet sind, die oft schwierigen Untersuchungen über den großen Dichter und seine Werke unsäglich zu verwirren, woher es gerathen scheint, die Täuschung derselben offen darzulegen. Zwei Mystifikationen, von denen der Verfasser der zweiten selbst von der ersten getäuscht worden ist, gedenken wir hier kurz darzulegen.

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Die

In der Schrift Goethe in Frankfurt am Main oder zerstreute Blätter aus der Zeit seines dortigen Aufenthalts in den Jahren 1757 bis 1775; gesammelt von Dr. Heinrich Döring" (1839)*) finden sich S. 61 bis 88 „Auszüge aus Goethe's Briefen in den Jahren 1768 bis 1775," welche wir hier deßhalb besprechen, weil bei vielen dieser, zuweilen nicht einmal genau gegebenen Auszüge ein falsches, oft ein rein ersonnenes Datum beigefügt ist, wodurch manche sich haben täuschen lassen. Namen der Personen, an welche die Briefe gerichtet sind, hat der Herausgeber seltsamer Weise, als ob er nicht gern kontrollirt werden wolle, ganz weggelassen. Die vom 9. Nov. 1768, 13. Febr. 1769, 20. Febr. 1770 richtig datirten Auszüge sind aus Briefen an Deser, Deser's Tochter und den Buchhändler Reich nur nicht genau abgedruckt, dagegen stimmen die sechs folgenden aus Goethe's auf der Straßburger Bibliothek aufbewahrten Briefen an Salzmann, von denen die vier ersten kein Datum haben, aber bei

*) Einen seltsamen Verstoß finden wir in dieser Schrift S. 59, wonach Goethe im Jahr 1775 in seinem 16. Jahre gestanden haben soll.

Döring fehlt ein solches auf das Gerathewohl ersonnenes Datum nicht. Daß aber die hier gegebenen Datirungen falsch sind, läßt sich leicht erweisen. Die vier ersten Briefauszüge, welche vom 16. April, 14. und 20. Juni, 4. Oktober 1770 datirt sind, beziehen sich auf das Verhältniß zu Sesenheim, das aber erst im Oktober 1770 angeknüpft ward und in der ersten Zeit keineswegs etwas Beunruhigendes hatte, wie es sich in allen vier Briefen ausspricht. Vergl. Schöll Briefe und Aufsäge von Goethe S. 50 ff. Der erste dieser Briefe ist geschrieben, als Goethe bereits vier Wochen in Sesenheim war; denn wenn wir bei Döring (und nach ihm in Pfeiffer's später zu besprechendem Buche) lesen: „Und dann bin ich eine Woche älter," so ist dies ein Falsum, da in dem Briefe Goethe's vier Wochen steht, nicht eine Woche. Zwischen dem ersten und zweiten dieser Briefe kann unmöglich eine Zeit von fast zwei Monaten liegen, wie hier angenommen wird. Auch scheint der zweite Brief nicht lange nach Pfingstmontag geschrieben (diese Zeitbestimmung hat Döring weggelassen), der im Jahre 1779 auf den 4. Juni fiel. Vergl. meine Abhandlung über Goethe's Friederike in den Blättern für literarische Unterhaltung. Die falschen Datirungen Döring's haben nicht bloß Freimund. Pfeiffer getäuscht, sondern auch Schöll a. a. D. S. 115, während Döring selbst sie in „Goethes Leben“ S. 154 ff. unbeachtet gelassen hat, wo er den argen Fehler eine Woche statt vier Wochen unverbessert beibehält. Nach den Briefen von Salzmann folgen Auszüge aus Briefen an den Consul Schönborn in Algier, die hier nach der Angabe in der Schrift „Schönborn und seine Zeit" dem Jahre 1774 zugeschrieben werden, wogegen sehr viele Erwähnungen in denselben es unzweifelhaft machen, daß sie dem folgenden Jahre angehören, in welches sie auch in Goethe's Werfen Bd. 27, 474 versezt werden. Auf wie arge Weise Goethe's Biograph, welcher den offenbaren Irrthum in der Jahresangabe übersah, auch hier die Chronologie in Verwirrung gebracht hat (S. 169 ff.), bedarf keiner weitern Ausführung. Auf den Brief an Schönborn vom 4. Juli 1773 (d. i. 1774) folgt zunächst ein Stück aus einem Briefe an Lavater, richtig vom 26. April 1774 datirt, wogegen das Datum des folgenden Briefchens an Lavater (14. Juli 1774) rein ersonnen ist, und dazu höchst unglücklich, da Goethe am 15. Juli 1774 wieder bei Lavater in Ems war, *)

"

*) Vergl. die Darstellung von Lavater's Reise in Lavater's Lebensbeschreibung" von Geßner II. 126, womit Goethe's Erzählung in „Wahrheit

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