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Miscellen.

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Zum Andenken an Wilhelm Grimm.*

Im Januar des vergangenen Jahres feierte das deutsche Volk das Andenken eines Mannes, dessen stille Forschergröfse, dessen milde, edle Denkungsart, dessen Bescheidenheit und Festigkeit ihn in hohem Masse als Repräsentanten eben dieses Volkes erscheinen liefsen, das mehr als irgend ein anderes es liebt, sich in die Tiefe des eigenen Wesens, in die Schächte seiner Vergangenheit zu verlieren, dessen Bescheidenheit sprichwörtlich geworden, dessen Festigkeit bewährt ist das Andenken Jakob Grimms. In zahlreichen Reden und Schriften wurde seine Bedeutung für die Begründung und Entwickelung der deutschesten Wissenschaft, der deutschen Philologie, der germanischen Altertumskunde dargethan; wer dieser Disciplin fern stand, erinnerte sich gern der frohen Stunden, die er in goldenen Jugendtagen über den Grimmschen Märchen verbracht; wer ihm nahe trat und seinem Bilde an der Hand der damals von allen Seiten zuströmenden Litteratur nachging, der durfte nicht ablassen, in ihm den deutschen Mann, den aufrichtigen und ehrlichen Patrioten, der unerschrocken für seine Überzeugung einzutreten wufste, den hochherzigen, für die herrlichsten Ziele begeisterten Gelehrten zu verehren und zu bewundern. Jakob Grimm ist eine köstliche Gestalt; wie aber die Natur zuweilen ein glänzendes Phänomen zeitigt und sich im freudigen Schaffensmut beeilt, ihm ein zweites oder drittes keck zur Seite zu stellen, so entsprofsten derselben

* Gelesen in der von der Gesellschaft für deutsche Philologie zu Berlin ihm zu Ehren gehaltenen feierlichen Sitzung am 24. Februar 1886. Archiv f. n. Sprachen. LXXVI.

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Familie zwei Männer, die, für das gleiche Studium begeistert, von gleich edler Gesinnung getragen, dem Vaterlande stets zur schönsten Zierde gereichen werden. Die Namen Jakob Grimm und Wilhelm Grimm sind unzertrennlich: in den langsam schleichenden Schuljahren nahm sie - um mit Jakobs Worten zu reden ein Bett und ein Stübchen auf, safsen sie arbeitend an ein und demselben Tisch, auch im späteren Leben wohnten sie unter einem Dache in gänzlicher unangefochten und ungestört beibehaltener Gemeinschaft ihrer Habe und Bücher, auf dem Titel mehrerer bedeutender Werke stehen ihre Namen nebeneinander: so kann auch das Leben des einen nicht geschildert werden, ohne dafs des anderen, seines Einflusses auf den Bruder, der ihm entströmenden Anregungen fortwährend gedacht wird.

In dem aus Abbildungen nunmehr wohlbekannten Hause in Hanau wurde Wilhelm Karl Grimm heut vor hundert Jahren geboren. Einige Erinnerungen aus den fünf ersten Jahren seines Daseins begleiteten ihn durchs Leben: ein in roten Blüten prangender Pfirsichbaum, eine Truppenrevue, der goldene Hahn auf dem Kirchturm, das Haus der Tante, die den Brüdern den ersten Unterricht erteilte, aber für Jakob eine Vorliebe hegte, die vielleicht auf des Knaben Ähnlichkeit mit dem Grofsvater Friedrich Grimm gegründet war.

Lebhafter blieben die Eindrücke der Steinauer Zeit. Wiesenthäler und Anhöhen, von den Brüdern gemeinsam durchwandert, nährten in ihnen das angeborene Naturgefühl, das seinerseits wiederum einen gewissen Sammelgeist weckte und die Knaben antrieb, die vergänglichen und zerbrechlichen Erträge ihrer Spaziergänge mit Stift und Farbe festzuhalten. Für strengere Unterweisung sorgte dann der kuriose Stadtpräceptor Zinkhahn, den Jakob so anschaulich schildert, dessen Fakultäten aber nicht weit reichten, so dafs die Tante Zimmer auf gründlicheren Unterricht Bedacht nahm und die Brüder 1798 nach Kassel kommen liefs, wo sie dem Lyceum anvertraut wurden. „Ich war eifrig im Lernen, wie es auch sehr nötig war," schreibt Wilhelm, „aber der Übergang zu dieser sitzenden Lebensweise, denn der ganze Tag war mit Lehrstunden besetzt, wirkte nachteilig auf meine bisher so feste Gesundheit." Dies und das Wachstum schwächten seinen sonst so starken Körper, an des Jünglings Gesundheit

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begann wie am rotwangigen Apfel innen ein Wurm zu nagen“ : Scharlachfieber, asthmatische Beschwerden, Brustschmerzen zwangen ihn wiederholt daheim zu bleiben oder erschwerten ihm den Weg zum Lyceum, wenn der kalte Wind über den Friedrichsplatz ihm entgegenblies." Asthma fesselte ihn zu der Zeit, wo sie die Universität beziehen sollten, ein halbes Jahr ans Zimmer. Er selbst sah freilich später diese Tage des Siechtums als Wohlthäter an, die segensreich an seiner inneren Entwickelung gearbeitet hatten: schlaflose Nächte, Stunden, in welchen Beschäftigung untersagt ist, regen zur Selbstbetrachtung an und führen zu Bewusstsein und Erkenntnis. Im Frühling 1803 holte ihn Jakob nach Marburg hinüber: sie hörten ziemlich dieselben Vorlesungen, auch Wilhelm durfte sich des Wohlwollens Savignys rühmen, und noch nach dreifsig Jahren weifs er kaum etwas zu nennen, das so grofsen Eindruck auf ihn gemacht, wie der Vortrag dieses ausgezeichneten Gelehrten. Für wie vieles hat er uns den Sinn erschlossen, und wie manches noch unbekannte Buch ward aus seiner Bibliothek nach Haus getragen!“ Im Jahre 1806 bestand Wilhelm ein Examen, doch verhinderte die französische Occupation seines Vaterlandes eine Anstellung. Denn drückende Zeiten, reich an herben Erfahrungen und Demütigungen waren über Hessen hereingebrochen, und auch auf das Leben der Brüder warfen sie trübe Schatten. Dazu kam, dafs die begonnenen Rechtsstudien Wilhelm noch weniger als den Bruder befriedigten: so war es natürlich, dafs er sich von der Gegenwart abwandte und zurücktauchte in die Zeit des Mittelalters, dessen geistige Bildung ihn mächtig anzog, in dem er Leben und Wahrheit, Mannigfaltigkeit und Erzeugnisse fand, die durch inneren Wert ausgezeichnet sind. Was er in seiner Zeit vermifst, entdeckt er in der Vergangenheit. Was die Gegenwart"

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so führt er in seinem für Justi geschriebenen Lebensabrifs aus „der es nicht an Feinheit des Geistes und einer gewissen Schwelgerei in subtilen Gedanken fehlt, als ihr Eigentümlichstes preisen möchte, sie könnte in den Gedichten des 13. Jahrhunderts das Gegenstück finden und dabei eine Gewandtheit im Ausdruck des Einzelnen, deren die heutige Sprache nicht mehr fähig ist."

Freilich wurde die frohe Begeisterung, die er den altdeut

schen Studien entgegenbrachte, durch die erwähnte Kränklichkeit um so mehr niedergehalten, als besonders die Herzbeschwerden in bedrohlicher Weise zunahmen; die heimischen Ärzte waren ratlos, und so sah sich Wilhelm gezwungen, nach Halle zu reisen, um den berühmten Reil zu Rate zu ziehen. Früh schon war es Jakob vergönnt, in die weite Welt hinauszuziehen, ein seltsames Geschick führte ihn auf ein Arbeitsfeld, das seinen Horizont weit spannen, seinen Ideen einen höheren Flug verleihen musste. Denselben Dienst wie der Pariser Aufenthalt leisteten ihm verschiedene diplomatische Reisen, indem sie sein klares Gelehrtenauge auch für das bunte Treiben der Welt öffneten, sein leis aufhorchendes Ohr an das Geräusch der grofsen Städte gewöhnten. Nicht minder einflussreich auf Wilhelms Anschauungen, auf seine Auffassung des Lebens war diese Reise. Während er in Halle langsam seine Gesundheit wiedererlangt, die sich fortan immer mehr befestigt, so dafs sie ihn im Jahre 1815 ein Wunder dünkt, lernt er Menschen verschiedenster Art und Richtung kennen und legt in seinen Briefen eine eigene Fähigkeit an den Tag, sich mit den seltsamsten abzufinden. Den Freuden der Geselligkeit minder abhold als der Bruder, besucht er den Professorenklub, mischt er sich in eine bunt zusammengewürfelte Badegesellschaft, die sich zu einem fröhlichen Schmause vereinigt. Er wohnt in Halle in einer Studentenwohnung, die im Hause des „Spitzes von Gibichenstein" lag, des Schiller so unleidlichen Komponisten Reichardt. Die Brüder bezeichnen ihn als den Genialen", eine Eigenschaft, die seiner ganzen Familie nicht gefehlt zu haben scheint; wenigstens treten die Schattenseiten genialer Wirtschaft und ihre Folgen dem unbefangenen jungen Gelehrten mehrfach aufs handgreiflichste entgegen. Während Wilhelm in diesem Kreise seiner Gesundheit lebt, den seltsam anomalen Zustand seines Herzens" durch Bäder und Elektricität zu heben sucht, nach Melissen duftet und einbalsamiert wird bei lebendigem Leibe, ist sein Augenmerk unablässig auf die Litteratur alter und neuer Zeit gerichtet, und die Briefe in die Heimat füllen sich zum nicht geringen Teil mit kritischen Bemerkungen über seine Lektüre: Äschylos, Quintus Fixlein, Snorre, Calderon, Gottfrieds Tristan, Tieck schwirren bunt durcheinander; daneben werden Recensionen geschrieben und mit dem Bruder über ge

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