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Über die

Sprache des Roman du Mont Saint-Michel

von Guillaume de Saint-Paier.

Von den Litteraturdenkmälern der südwestlichen Normandie ist eins der wichtigsten der Roman du Mont Saint-Michel. Was ihn in der von Francisque Michel publizierten Handschrift vor allem auszeichnet, ist die grofse Zahl von eigentümlichen Schreibungen. Es ist nun meine Absicht gewesen, zu untersuchen, inwiefern dieselben auf den Dichter zurückgehen, und ob sie geeignet seien, uns ein wahres Bild von der Sprache des Südwestens der Normandie zu geben.

Ähnliche Aufgaben haben sich schon andere gestellt, haben aber dabei nur einzelne Erscheinungen ins Auge gefafst, ohne den Gesamtcharakter der Handschrift genügend zu berücksichtigen; oder sie setzten sich über die (scheinbaren und wirklichen) Widersprüche ohne weiteres hinweg und sprachen unserem Denkmal Eigentümliches keck ab. Diese Fehler sollen im Folgenden vermieden werden. Dies war indes nur möglich, wenn der von jenen betretene Weg des Beweises durch den Roman allein oder mit Hinzuziehung nur eines benachbarten gleichalterigen Denkmals verlassen und eine breitere Grundlage durch Vergleichung mehrerer, aus gleicher oder jüngerer Zeit und allen umgebenden Gebieten stammender Denkmäler geschaffen wurde.

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Ergaben diese auch nur unbefriedigende oder gar keine Auskunft, so wurde der sicherste und letzte Prüfstein, die heutige Volksmundart, zu Rate gezogen.

War es auch nicht möglich, die eine oder die andere Erscheinung als des Dichters Sprache angehörig festzustellen, so ergab sich doch eine bestimmte Vorstellung von dem Wesen derselben; und wenn es Archiv f. n. Sprachen. LXXVI.

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gelang, sie in bestimmten Gebieten als einst oder selbst heute noch gesprochen zu erweisen, so mussten sie mindestens ein Bild der Sprache des letzten Kopisten und damit eine Charakterisierung jener Handschrift ergeben.

Ich beabsichtigte ursprünglich auch die Formenlehre unseres Denkmals mit in meine Untersuchung hineinzuziehen, doch bin ich davon abgekommen, weil sich des Besonderen, nicht schon aus Waces und Benoits Werken Bekannten, wenig ergab, das ich im Anhang zu den allgemeinen Bemerkungen hinzufügen konnte. Ein anderer Teil desselben ist in der Lautlehre zur Sprache gekommen.

Für gütigst erteilte Ratschläge bei der Abfassung dieser Arbeit sei es mir gestattet, an dieser Stelle Herrn Professor Gröber meinen besten Dank auszusprechen.

§ 1. Vom Dichter.

Der Dichter nennt sich selbst in v. 17 der von Michel edierten Hs.: Guillelme de Seint-Paier (über Paier s. e ged.). Es giebt mehrere Orte des Namens Saint-Paier resp. Saint-Pair: der eine, vom Dichter selbst citiert (v. 2392), als zu den Besitzungen des Klosters auf dem Mont Saint-Michel gehörig, Sainct Paier en Costentin (Cotentin, Manche), eine Abtei südöstlich von Granville gelegen; die anderen, von denen mir sonst Näheres nicht bekannt ist, im Avranchin, im Dép. Calvados, Eure, Seine-Inf. Es lässt sich nicht entscheiden, welchem Orte der Dichter entstammte, wahrscheinlich dem ersteren. Sprachlich gehören wohl die ersten beiden (nach der Karte von Joret in den Caractères et extension du patois normand, Paris 1883) dem Avranchin an. *

Über die Lebensumstände des Dichters ist uns wenig bekannt; was wir davon wissen, ist dargelegt in der Einleitung zu Michels

* Es ist wahrscheinlich, dafs das bei Granville gelegene Saint-Paier eine etwas andere Mundart aufweist und aufwies als der Mont Saint-Michel; da wir aber einerseits den Heimatsort des Dichters nicht bestimmt nachweisen können und es andererseits wahrscheinlich ist, dafs seine Herkunft auf seine Sprache keinen oder doch keinen grofsen Einfluss ausgeübt haben kann, weil er früh auf den Mont Saint-Michel gekommen sein mufs, so brauchen wir auf jene mundartliche Differenz keine Rücksicht zu nehmen.

Textausgabe (s. u.) von Beaurepaire p. X. Geburts- und Todesjahr sind unbekannt. Sicher ist blofs, dafs er während der Vorsteherschaft von Robert de Torigny (1154-1186) auf dem Mont Saint-Michel als Mönch gelebt und in dieser Zeit als jovencels (v. 15) den Roman geschrieben hat. Das „jovencels" will indes zu Beaurepaires Angabe (Einleitung p. VII), dafs der Dichter schon zur Zeit des Abtes Bernhart (um 1143) einen gewissen Einflufs besessen habe, nicht stimmen. Auch weils Hs. B des Romans (s. u.) nichts von einem „jovencels". Stand es im Original, so mufs Guillaume sein Werk noch in den fünfziger Jahren des 12. Jahrh. geschrieben haben.

Den Angaben Beaurepaires ist noch folgendes hinzuzufügen: Ein Wilhelmus de Sancto Paterno findet sich 1155 als Zeuge unter den Mönchen des Klosters des Mont Saint-Michel, s. Robert de Torigny ed. L. Delisle Bd. II, p. 262, ebenso noch 1164 (ib. p. 271) und 1172 (ib. p. 305). Wir dürfen wohl in diesem unseren Dichter erkennen, zumal ein anderer gleichen Namens in den Urkunden nicht auftritt, in welchem Falle wir, wie dies bei anderen Mönchen geschieht, die Bezeichnung mit I, II etc. erwarten dürften.

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Guillaumes Lebenszeit mag also in die Jahre 1130-1180 fallen. Des Dichters „Roman", wir würden Klosterchronik sagen, setzt eine innige Bekanntschaft mit der Geschichte des Klosters auf Mont Saint-Michel und dessen Legenden voraus; nachweislich (s. Beaurepaire) hat denn auch Guillaume lateinische Urkunden des Klosters nur ins Französische übertragen. Lesen und Schreiben mag er wohl auch auf dem Mont Saint-Michel gelernt haben; er wird die Sprache seiner nächsten Umgebung geschrieben haben. Der Mont Saint-Michel liegt im südlichen Avranchin; wir werden also bei unserer Untersuchung da, wo auf die moderne Mundart eingegangen werden mufs, diejenige des südlichen Avranchin zur Vergleichung heranziehen.

§ 2. Die Handschriften.

Der Roman du Mont Saint-Michel ist in zwei alten Hss. überliefert. Eine Transskription des Romans aus dem 17. Jahrh. befindet sich (nach Beaurepaire p. VI) auf der Nationalbibliothek in Paris, eine neuere Abschrift der älteren Hs. des British Museum, besorgt vom Baron de Pirch, auf der Bibliothek zu Avranches.

Die beiden alten Hss. sind heute im British Museum in London

einregistriert als Ms. addit. 10289 und 26876. Die erstere, die ich im Folgenden kurz mit A bezeichne (26876 mit B), ist eine Sammelhandschrift aus dem Jahre 1280. Genau beschrieben ist sie meines Wissens noch nicht (Beaurepaire a. a. O. giebt nur wenige Andeutungen). Inhaltsangaben finden sich bei Beaurepaire in seiner Einleitung zu Michels Ausgabe und bei Robert Reinsch, dem Herausgeber des Roman de la Résurrection de Jésus-Christ in Herrigs Archiv Bd. LXIV, p. 166. Was zu erfahren von besonderer Wichtigkeit war, ist von beiden, Beaurepaire und Reinsch, mit Stillschweigen übergangen, nämlich die Angabe, ob die Sammelhandschrift von einer oder von mehreren Händen geschrieben sei.

Wie mir Herr cand. phil. Elsner hier, der sie einsehen konnte, mitteilt, scheinen es drei zu sein, und zwar schrieb die erste in klarer grofser Schrift unseren Roman, die zweite die nächsten sechs Stücke, die dritte das letzte (Fabliau des Colin Malet).

Wir können somit von einer Vergleichung der sämtlichen Stücke unserer Hs. absehen; haben sie aber insofern doch dazu beigezogen, als sie westnormannische Autoren und Sprachcharakter haben.

Unser Roman ist in Hs. A sehr lückenhaft überliefert; da indes die Schrift sehr sorgfältig ist, scheint dieser Mangel nicht dem letzten Kopisten zur Last zu fallen. Dafs seine Vorlage schon verstümmelt war, möchte die wieder ausradierte, hinter v. 2749 stehende Zeile: cen ne sei jen cum fut ostee andeuten; wie schon Michel bemerkt, dürfte sie sich auf ein ausgefallenes Blatt der Vorlage beziehen. Verhält es sich in der That so, so kann Hs. B nicht unmittelbar auf die Vorlage von A zurückgehen, denn obwohl jünger, so ist sie doch vollständiger, und nur durch die Flüchtigkeit des Kopisten verkürzt und verdorben.

Die Lücken in A (genauere Angabe, wo sie sich finden, s. u.) sind inhaltlich aus den lateinischen Vorlagen ergänzt in den Mémoires de la société des antiquaires de Normandie (später einfach als Mém. citiert) Bd. XIV, p. 37 ff. und XVII, p. 15 u. 321 ff. Jene Vorlagen befinden sich heute noch 'unediert auf der Bibliothek zu Avranches.

Hs. A ist erst zur Zeit der französischen Revolution nach England gekommen (vgl. Abbé de la Rue: Essai sur les jongleurs et bardes II, 305).

Über eine dritte, verlorene, von Montfaucon erwähnte Hs. siehe

Varnhagen, Rom. Ztschr., hrsgb. von Prof. Gröber (später citiert als R. Zs.), Bd. I, 545 ff.

Hs. B, heute im British Museum 26 876, ist genau beschrieben von Varnhagen a. a. O. Sie ist vollständiger als A, aber sehr flüchtig geschrieben, weshalb die 4142 Verse des Originals (nach Varnhagens Berechnung) in ihr auf 3965 zusammenschrumpften. Sie stammt aus dem Jahre 1340 und ist schon seit dem 15. Jahrh. in England (nach Varnhagen), scheint aber doch von einem Normannen des Kontinents kopiert zu sein. Dafs sie so früh dahin kam, könnte auf wohlberechneter Absicht beruhen, war doch der Mont Saint-Michel in England reich begütert (vgl. Delisle a. a. O. II, 318) und mufste also unser Roman für englische Angehörige des Klosters besonderes Interesse besitzen.

Es ist mir leider trotz mehrfacher Bemühungen nicht möglich gewesen, eine Kollation dieser Hs. zu erhalten, deshalb habe ich Umgang genommen, in A (ich bezeichne im Folgenden kurz so den Text Michels, wie er in der Sammelhandschrift vorliegt) fernerliegende Textkorrekturen zu versuchen, da dies in erspriefslicher Weise wohl nur mit vollständiger Kenntnis von B geschehen kann. Blofse Schreibfehler habe ich natürlich korrigiert, ebenso bei mangelnder Silbenzahl im Vers leicht zu Ergänzendes hinzugefügt, beziehungsweise überzählige Silben ausgeschieden.

Von B kenne ich nur die ersten 58 Verse, zum Teil nach Varnhagen (a. a. O. 26 Verse), zum anderen Teil durch Herrn Elsners Vermittelung. Ausserdem hat mir letzterer die Lesarten von B an den in A wichtigsten Stellen mitgeteilt, wofür ich ihm auch hier meinen besten Dank abstatte.

Es wird Sache eines neuen Herausgebers unseres Romans sein, die Stellung und den Wert von B gegenüber von A genau zu untersuchen; wir haben mangels dieser Kenntnis auf anderen Wegen (Vergleichung gleichalteriger und derselben Gegend oder benachbarter angehöriger Handschriften und der modernen Mundart) uns von der Stellung von A ein Bild zu machen gesucht.

§ 3. Edition und Besprechungen des Romans. Nach Hs. A ist derselbe ediert worden von Francisque Michel zuerst in den Mém. Bd. XX, 510 ff. und XXII, sodann separatim

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