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1) Geschichte der europäischen Civilisation. In brei Büchern behandelt der Verf. die alte, die mitt lere und die neuere Civilisation. Jedes Buch zerfällt wieder in mehrere Capitel. So bespricht der Verf. in dem, der alten Civilisation bestimmten, Buche: die vorgeschichtliche Civilisation, die griechische und die römische Civilisation. Die mittlere Civilisation stellt der Verf. dar in vier Capiteln: die urchristliche Eivilisation, die muhamedanische, die romanistische (die hierarchische Gestaltung der Civilisation), und die Verflüchtigung des Romanismus. Die neuere Civilisation würdigt der Verf. nach drei Capiteln: Gestaltung des Kirchenthums (Reformation der Lehre, Bildung des neuen Kirchenthums, Wirkungen der Reformation); Umbildung der Staatenverhältnisse (die Gleichgewichtsidee, der westphälische Friede, Unhaltbarkeit des neuen Staatensystems d. i. des Systems seit 1648); Verwandelung der staatsbürgerlichen Verhältnisse (Revolution, Restauration). 2) Statistik der europäischen Civilisation. Sie wird in sechs Büchern durchgeführt: 1) Natur- und Menschenwelt; 2) die Dekonomie (nach Stoffgewinnung, Stoffverarbeitung, Umtausch und Vertheilung der Güter); 3) die Geistesbildung (Unterricht, Lecture, Kunstbildung); 4) das bürgerliche Wesen (Einrichtung der Staaten, Regierung im Innern, äußere Verhältnisse); 5) das Kirchenwesen (griechische, katholische, evangelische Kirche); 6) die Moralitåt (die Lebensart, die Criminalität unter diesem schwerlich einzubürgernden Worte versteht der Verf. den Umfang und

die Beschaffenheit der Verbrechen,

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die Wohlthätigkeit,

das Verhältniß der Moralität und Civilisation).

Der Reichthum der behandelten Gegenstände erhellt

schon aus dieser Nomenclatur; denn liegt nicht die ganze Weltgeschichte im Bereiche der Civilisation? Ist nicht der Fort- und Rückschritt in derselben, so wie das wunderbare Farbenspiel der Civilisation in den verschiedensten Zeitaltern, und bei den verschiedensten Völkern, der wundervollste und interessanteste Stoff für die Geschichte unsers Geschlechts! Und zuleht die wichtige Frage: wo stehen wir? und_wohin gehen wir?

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Könnte Ref. bei seiner Anzeige ins Einzelne gehen; so würde er bemerken, daß die Geschichte der alten Civi lisation, bei einer zweiten Auflage des Werkes, theils der Erweiterung, theils der vielfachen Berichtigung bedürfe, weil in der That in vielen neuerschienenen Werken, namentlich über Griechenland und Rom, Andeutungen sich finden dürf ten, welche der Ref. in den Kreis seiner Untersuchungen und Resultate ziehen muß. Doch ist die römische Civilisation etwas reicher ausgestattet, als die griechische. Viele neue Ansichten finden sich in des Verfs. Darstellung der Civilisation im Mittelalter, namentlich in Beziehung auf die Wirkung des Kirchenthums und Bürgerthums auf einander. So sagt z. B. (S. 53) der Verf. von den, zum Christenthum: übergegangenen, germanischen Völkern : „der germanische Staat hatte, wie der antike, Kasten, Stånde, allein die Absonderung war nicht so schroff (?). Der Clerus erzeugte sich meistens aus dem Volke; der Adel ward zuweilen durch die Fürsten an die Plebejer verliehen (der Briefadel kam bekanntlich erst in der zweiten Hälfte des Mittelalters auf; Ref.); und die Religion hob in den friedlichen Momenten des Lebens alle Unterschiede."

Da, wo der Verf. den Uebergang des Muhameda

nismus auf Europa schildert, hätte wohl Ref. das Urtheil desselben über die wichtige Erscheinung gewünscht, weshalb der Muhamedanismus, übergetragen auf die spanische Halbinsel, in diesem Lande den Wissenschaften in hohem Grade förderlich war, im byzantinischen Reiche aber nicht, obgleich der Muhamedanismus in Griechenland weit wichtigere Ueberreste früherer Cultur antraf, als die Araber, wie sie im achten Jahrhunderte den Boden Spaniens betraten? Lag die Schuld von dieser Verschiedenheit in der innern Veränderung des Muhamedanismus zwischen 711 und 1453, oder in der großen Verschiedenheit der Culturverhältnisse der Bestegten ?

Der Verf., als Katholik, beurtheilt den Eintritt der Kirchenverbesserung ins Staatsleben mit Ruhe und Würde, und läßt Luthern sein Recht wiederfahren; doch dürften in dem Abschnitte (S. 91) über die Wirkun gen der Reformation, die meisten Gegenreden gegen die Sache des Verfs. aufgestellt werden können, wenn dies nicht eine vollständige Prüfung des Gegenstandes nöthig machte, zu welcher der Raum gebricht. Allein sehr tref fend erklärt der Verf. (S. 93): „das Tridentinische Concil bewirkte eine wahre Verknöcherung des Katholicismus, indem es den katholischen Glauben eben nur im Gegenfaze des evangelischen feststellte."

Die Schärfe des politischen Urtheils des Verfs. belege ein Bruchstück aus seiner Darstellung des westphälischen Friedens (S. 101): „Der westphälische Friedensgott trug den Januskopf recht zur Schau. So wie der Krieg principaliter, d. h. für die Fürsten, ein Kampf gegen das Habsburgische Uebergewicht, vulgo, d. h. für das Volk, ein Kampf zwischen Papismus und Protestantismus war;

so waren auch am Friedensschlusse zwei Seiten bemerkbar, eine religiöse und eine politische. Die religiöse Seite des westphälischen Friedens war durchaus nur die Rückseite. Nichts weniger ward erzielt, als ein echter Religionsfriede; nur die Religionskriege wurden geschlossen." Die weitere geistreiche Ausführung muß man bei dem Verf. selbst lesen.

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In stylistischer Hinsicht nahm Ref. (S. 107) Anstoß an folgender Stelle, wo der Verf. von Friedrichs 2 Erwerbung Schlesiens spricht: „König Friedrich behielt Schlefien, und erhob sich durch sein Genie in den ersten Rang der Staaten." Der wahre Sinn liegt vor, und ist geschichtlich begründet; allein der Ausdruck scheint etwas verfehlt. Verstattete es der Raum; so würde hier der kräftige Umriß der Wirksamkeit Napoleons (S. 121) seine Stelle finden; allein Ref. beschränkt sich auf die Stelle, wo der Verf. ausspricht, was nach Napoleons Sturze håtte geschehen sollen. Der Zeitgeist gleicht darin den Gespenstern, daß Waffen ihn nicht tödten, und daß er, zehnmal verscheucht, zum eilftenmale wieder kommt. Man muß ihn beschwören und erlösen, wenn man vor ihm Ruhe haben will. Zu diesem Ende mußte man aber auf Alles eingehen, was die Völker seit 300 Jahren erstrebten und nicht recht erlangen konnten. Man durfte sich nicht auf die bürgerlichen Verhältnisse beschrånken, sondern mußte sich auf die kirchlichen und geistigen ausdehnen. Man mußte, um Alles mit einem Worte zu sagen, die Entwickelung der europäischen Menschheit, die von unten, und leider! nur aus verneinenden Principien ausgelaufen war, von oben aus positiven und organischen Principien ausgehen lassen. Wurde diese Aufgabe gelöset; so war Europa auf den

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Standpunct gekommen, welcher demselben gebührte; so wa= ren die feindlichen Elemente der Civilisation überwunden und gebåndigt."- Die Wahrheit dieses politischen Grundsatzes kann an sich nicht bestritten werden; das Entwickeln von unten nach oben geschieht selten ohne Auswüchse; denn nur einmal, im Laufe der neuern Geschichte, fand sich in Luther der Mann, welcher mit einem klar gedachten Bis wie weit von unten auf reformirte. Das Reformiren ausgehend von oben, ist sicherer und umsichtiger, als das von unten. Mit redlichem Willen begonnen, bringt es Zusammenhang und Gleichmäßigkeit in das Fortschreiten der Völker; dazu gehört aber allerdings das Wollen, und das redliche Wollen, das bei dem Volke selbst den allge= meinsten Anklang findet, wie dies die Geschichte der Staas ten verbürgt, wo die Regierungen auf der Höhe des Zeitalters stehen.

Mögen diese Andeutungen hinreichen, auf den reichen Inhalt des Werkes und den politischen Blick seines Verfs. die Aufmerksamkeit der Leser zu leiten; besonders empfiehlt ihnen Ref. (S. 305) die,,Resultate der Geschichte und Statistik der europäischen Civilisation." Könnten sie - ihren Plaß hier finden; sie würden beståtigen, daß der Verf. mit politischem Geiste im Buche der Vergangenheit las, und mit geschichtlichem Geiste die Zukunft deutet!

Mittheilungen des statistischen Vereins für das Königreich Sachsen. Dritte Lieferung. Leipzig, 1833, Vogel. 124 S. 4.

Ref. hat der beiden ersten Lieferungen dieser schäßba-, ren,,Mittheilungen" bereits ausführlich gedacht, und nach

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