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in geringerm Maaße, als früher. Eine solche Erscheinung war nur durch eine höchst folgenreiche Begriffsverwechselung möglich, welche von den kirchlichen Machthabern theils bez wußter, theils unbewußter Weise festgehalten ward. Die Verwechselung lag darin, daß man den Zweck der Religion mit dem Zwecke der Kirche als identisch ansah, und' den erstern, obgleich er, dem Gesagten zufolge, schlechterdings nitht Gesellschaftszweck seyn kann, dennoch als einen solchen aufstellte. Dem Gange ihrer Ausbildung zufolge, gestaltete sich die römisch-katholische Kirche als eine Repräsentativgesellschaft, d. i. als eine solche, deren Mitglieder die Ge= sellschaftsrechte nicht persönlich, sondern durch Repräsentan= ten, den Priesterstand, ausüben, und dieser Priesterstand war es eigentlich und ist es noch, welcher das gesellschafts liche System jener Kirche bildet, ein System, in welchem die, wenn schon, nach unserm Dafürhalten, `irrige, Ansicht, daß die Kirche eine große Gesellschaft sen, mit höchster Consequenz durchgeführt, und eine förmliche Kirchenregierung mit einem Monarchen an der Spite, errichtet ward. (Ob dieser Monarch als unumschränkter Herrscher anzusehen, oder durch die Gesammtheit der Repråsentanten der Kirche beschränkt sey, ist gleichgültig.) Man ging noch weiter; man verwechselte die Ausübung der kirchlichen Rechte, die den Priestern übertragen waren, mit den Rechten selbst, wodurch nun die Gesammtheit der Priester völlig zu einem abgeschiedenen Stande, und der Cleriker allein zum activen Kirchenbürger gemacht ward, während man die übrigen Mitglieder der Kirche, wenn auch nicht geradezu als rechtlos, doch wenigstens als Kinder oder Unmündige behandelte. Aus dieser Ansicht der Dinge ergeben sich denn alle jene

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Folgen, durch deren Inbegriff die Geschichte der Kirche im Mittelalter gebildet wird. Namentlich ergab sich aus ihr die Anmaßung des Rechts, eine Glaubensnorm zu bestimeine Vorschrift, was Jemand für wahr halten müsse, wenn er als Mitglied jener großen, über den halben Erdkreis verbreiteten, Verbindung angesehen, und der Vortheile, welche sie auch in bürgerlicher Hinsicht darbot, theilhaftig werden wollte.

Die Reformation war, in ihrem Grundprincipe, nichts anderes, als eine Reaction gegen den Satz der römischkatholischen Kirche, daß das innere Band des gemeinsamen Glaubens auch zugleich eine äußere gesellschaftliche Verbindung begründe. Allein freilich ist nicht in Abrede. zu stellen, daß, selbst bei den Reformatoren, diese Ansicht nie, zur völligen Klarheit des Bewußtseyns gekommen ist. Zwar hielt man im Ganzen an dem Grundsahe fest, daß die Bes kenner des christlichen Glaubens nicht in die Fesseln eines Gesellschaftszwanges geschlagen werden dürfen, woraus denn freilich folgt, daß ihre Gesammtheit auch keine gesellschaft= lichen Rechte in Anspruch zu nehmen habe. Allein zu sehr war man an die Idee einer kirchlichen Gesammtgesellschaft gewöhnt, als daß man diesen Sah consequent durchzuführen im Stande gewesen wåre, und in unendlich vielen einzelnen Puncten und Fällen stellte man Säße auf und traf Einrichtun gen, welche sich nur aus der Vorausseßung erklären ließen, daß die Gesammtheit derer, welche sich zu gleichen Glaubensansichten bekennen, eine Universitas im Sinne Rechtens bilde, wiewohl man diesen Saß, da man durch ein unabweisbares Gefühl auf die Unhaltbarkeit desselben aufmerksam gemacht ward, gar bald auf die Bewohner eines und des

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felben Landes, oder vielmehr auf die Bürger eines und desselben Staates, beschränkte.

Mannigfaltig sind die Folgen, welche sich aus diesem Schwanken im Principe, welche namentlich aus der sich im mer weiter verbreitenden Unsicht, daß die protestantische Kirche, oder mindestens die Gesammtheit der Protestanten in einem Staate, eine ideale Person', ein selbstständiges Rechtssubject, ausmachten, ergeben haben, und zum Theile nothwendig ergeben mußten.,,Wer vertritt in den Ländern, in welchen die Gesammtheit des Volkes von der katholischen Kirchen verbindung fich losgesagt hat, die Stelle des Papstes und der Bischöffe ?" Wem kommt es zu, das Dogma zu be stimmen ?" ,,Hat die Kirche collegialische Rechte, und

welche sind sie ?"

,,Kann fie Vermögen besitzen ?" - „Ist fie dem Staate, oder der Staat der Kirche unterworfen ?" — Soll die Kirche auf den Landtagen repråsentirt werden?" *) — *) Das Recht der Kirche, auf den Landtagen repråsentirt zu werden,

ist besonders von den Geistlichen in Anspruch genommen worden. Ob wir gleich kaum zu erinnern brauchen, daß wir, nach unfern in diesem Aufsage dargestellten Ansichten, der Kirche jenes Recht nicht zugestehen; so dürfen wir doch auch nicht unbemerkt Lassen, daß gerade in diesem Puncte den Theologen von den Gegnern ihrer Ansicht häufig großes Unrecht geschieht. Man hat nåmlich die Forderung, daß die Kirche unter den Vertretern des Landes repråsentirt werden solle, nicht selten so verstehen wollen, als ob eine Repråsentation des geistlichen Standes gefordert würde, und hat hiervon Veranlassung genommen, diejenigen zu verunglimpfen, welche auf Repräsentation der Kirche dringen. Allein dieser Tadel ist eben so lieblos, als er grundlos ist. Wer die Ueberzeugung hat, daß es eine protestantische Gesammt oder Landeskirche gebe; der wird consequenter Weise auch ihre Reprås sentation auf den Landtagen wünschen müssen, und es ist nicht abzusehen, warum ein Geistlicher, der diesen Wunsch ausspricht, gerade den egoistischen Zweck dabei haben müsse, einen Standesvorzug zu erlangen, oder geltend zu machen. Andererseits ist

-

,,Giebt es eine Kirchenzucht, eine Strafgewalt der Kirche, ein Recht derselben, unmoralische und die Religion verachtende Mitglieder von der Gemeinde auszuschließen ?” "Ist der Geistliche ein Beamter der Gemeinde, des Staates, oder der Kirche ?" Alles das sind Fragen, welche entweder gar nicht hätten aufgeworfen werden können, wenn man sich überzeugt hätte, daß die Kirche in diesem Sinne, in welchem wir jezt von ihr sprechen, weder Gesellschaft, noch Körperschaft sey, oder die wenigstens, je nachdem man diesen, oder den entgegengesetzten Grundsaß annimmt, durchaus verschies den beantwortet werden müssen. Namentlich wäre der seit langer Zeit geführte, seit Kurzem erneuerte, Streit, ob das sogenannte Episcopal-, Territorial- oder Collegialsystem den Vorzug verdiene, insofern die hier von uns vertheidigte Meis nung die richtige ist, ganz undenkbar gewesen. Wir unterlassen es, diese Gegenstände im Einzelnen zu betrachten, und stellen es dem Leser anheim, die Antworten auf die obigen Fragen, die leicht noch mit vielen andern, nicht minder wichtigen, hätten vermehrt werden können *), aus den oben aufs gestellten Grundsågen selbst zu entwickeln.,

aber auch nicht zu übersehen, daß diejenigen, welche eine Res pråsentation der Kirche bei den öffentlichen Landesberathungen für unzulåffig halten, damit nicht behaupten, daß keine Reprås fentanten des Volkes, aus dem Stande der Geistlichen gewählt werden sollen. Lezteres ist vielmehr aus dem doppelten Grunde wünschenswerth, weil theils dieser Stand überhaupt zu den Ges, bildetsten der Nation gehört, und viele Månner von hoher Ins telligenz umfaßt, theils die Zweckmäßigkeit der vom Staate in Bezug auf äußeres Kirchenwesen zu treffenden Anstalten von Niemandem richtiger beurtheilt werden kann, als von den wissens schaftlich und practisch zugleich gebildeten Theologen.

*) z. B.: „Was/ist die philosophische Grundlage des protestantischen Kirchenrechts?"

Zufällige Gedanken über die Ursachen der Verånderungen, welche zu unsrer Zeit in der kirchlichen und bürgerlichen Welt sichtbar sind.

Vom Oberconsistorialrathe und Generalsuperintendenten D. Brets schneider zu Gotha,

Daß alle große kirchliche Vereine, welche mit europåischer Cultur in Verbindung stehen, in gegenwärtiger Zeit großen innern Gåhrungen unterworfen sind, ist außer Streit. So der Katholicismus, der Protestantismus und der Maz homedanismus in Europa. Nur das griechische Kirchenthum __scheint frei davon, was aber nicht seiner innern Festigkeit, sondern andern Verhältnissen zuzuschreiben ist. In Rußland fehlt noch der dritte, oder der Bürgerstand, und Griechenland erhebt sich eben erst aus seinen Trümmern.

Um den Grund jener Gåhrungen zu erforschen, muß man auf ein höheres Gesetz zurückgehen, das, wie alles Höhere, mehr, als das zu Erklärende umfaßt, und zugleich als das Gesetz der Entwickelung für eine Menge anderer, mit dem Kirchenwesen nicht nothwendig verbundener, Er scheinungen erkannt wird. Dieses allgemeine Geseß scheint mir in dem Saße enthalten, zu seyn: daß die Menschheit fortschreitet vom Besondern zum Allge meinen, vom Individuellen zum Universellen, vom Isoliren zum Vergesellschaften. Den Grund davon glaube ich in dem Saße zu finden, daß das Leben Jahrb. 6r Jahrg. IX. 14

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