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folge ihrer zeitlichen Nähe und sachlichen Verwandtschaft besonders stark gewirkt hat, ist uns in einzelnen entscheidenden Gattungen nicht erhalten. Bei der Exegese des VI. Buches der Aeneis steigert sich die Schwierigkeit der allgemeinen Verhältnisse im besonderen noch dadurch, daß von der üppig wuchernden transzendentalen Prosa und Poesie, die Vergil benutzte, uns nur sehr wenige Ranken erkennbar sind, die freizulegen in der Einleitung und an einzelnen Stellen des Kommentars der Versuch gemacht worden ist, ein Versuch, der notwendigerweise unvollkommen bleiben mußte: sollte es mir gelungen sein, einiges Sichere oder Wahrscheinliche z. B. über die eschatologische Poesie der Griechen (die κaтáẞaσic des Herakles und die des Orpheus) sowie über eine apokalyptische Schrift des Poseidonios ermittelt zu haben, so muß ich nach Lage der Dinge zufrieden sein. - Die Bedingtheit unserer Erkenntnis gilt nun aber nicht bloß für die Quellenanalyse, sondern auch für die sprachliche Einkleidung des Stoffes. Denn von den Literaturgattungen, an denen Vergil seinen Stil, seine Sprache und seine poetische Technik sich vornehmlich gebildet hat, dem ennianischen Epos und den republikanischen Tragödien, besitzen wir nur Trümmer. Um so mehr galt es hier, durch eine Reihe von Kombinationen das dürftige Material zu vermehren: das ist speziell für Ennius im Kommentar von Fall zu Fall und zusammenfassend im Anhang I versucht worden, selbst auf die Gefahr hin, neben sicheren auch bloß problematische Resultate zu erzielen.

Für die grammatisch-lexikalische Erklärung im Einzelnen, die in einem Kommentar zu dem großen Neuerer Vergil stark betont werden muß, bietet der Thesaurus linguae latinae ein Hilfsmittel ersten Ranges; wenn dieses großartige Werk einst vollständig vorliegt, so werden unsere Kommentare zu lateinischen Autoren in dieser Hinsicht eine Vollendung erreichen, die sich vorläufig kaum ahnen läßt. Bis dahin ist Resignation auch auf diesem Gebiete eine der ersten Pflichten des Vergilinterpreten: das Erreichte muß nach Art und Umfang hinter dem Erreichbaren notwendigerweise zurückbleiben. Die Vergilzitate oder Nachahmungen bei späteren lateinischen Dichtern sind nur insoweit berücksichtigt worden, als sie für Kritik oder Exegese etwas auszugeben schienen; darin eine mehr der Geschichte als der Erklärung Vergils dienende Vollständigkeit zu erzielen, lag zudem außerhalb der Grenzen meines Könnens. Dagegen habe ich versucht, für die von Vergil seinerseits benutzten Stellen älterer Dichter größere Vollständigkeit zu erzielen, als das in den dankenswerten Listen W. Ribbecks bisher geschehen ist.

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Auch die sehr ausgedehnte Vergilliteratur habe ich mit möglichster Sorgfalt gesammelt und da, wo ich sie benutzte, jedesmal zitiert, um den Lesern auch äußerlich zu zeigen, wieviel ich meinen bis in die Zeit der Renaissance zurückreichenden Vorgängern verdanke. Im allgemeinen bin ich aber meine eigenen Wege gegangen: denn dieser Kommentar ist, wie alle in derselben Sammlung erscheinenden, nach den Intentionen des einstigen Leiters dieser Sammlung nicht dazu bestimmt, die früheren zu ersetzen, sondern sie auf Grund neuer, durch die allgemeinen Fortschritte unserer Wissenschaft inzwischen gewonnener Gesichtspunkte zu ergänzen. Daher habe ich Polemik nur in den seltenen Fällen üben zu sollen geglaubt, wo sie durch die besondere Lage eines Problems sachlich unumgänglich war; sonst habe ich die mir richtig erscheinende Erklärung teils in eigenem Namen teils mit demjenigen ihres ersten Finders ohne weiteres hingestellt und so die entgegengesetzten oder abweichenden Erklärungen stillschweigend abgelehnt. Es sei noch ausdrücklich hervorgehoben, daß ich von meinen großen Vorgängern besonders früherer Jahrhunderte auch da, wo ich glaubte von ihnen abweichen zu müssen, vieles mit Bewunderung und Dankbarkeit gelernt habe. Dazu kommt, daß wir über viele grundlegende Prinzipien, die für die Exegese römischer Dichter der augusteischen Zeit maßgebend sein müssen, erst durch Leos Untersuchungen aufgeklärt worden. sind; aus ihnen habe ich für die ganze Art und Anlage dieses Kommentars so viel gelernt, daß ich Leo bat, die Widmung entgegenzunehmen.

Bei der Konstituierung des Textes konnte ich für M die ausgezeichnete Kollation Max Hoffmanns (Progr. Pforta 1889) benutzen, für F das photographische Faksimile (Rom 1899): wie notwendig auch für diese Handschrift eine Revision der Angaben O. Ribbecks ist, zeigt die Tatsache, daß an einer entscheidenden Stelle (Vers 255) die von Ribbeck notierte Lesart durch das Faksimile widerlegt wird. Für GPR standen neue Hilfsmittel nicht zur Verfügung. Am linken Rande des Textes sind jedesmal diejenigen Hss. notiert, in denen die betreffenden Perikopen erhalten sind. In der adnotatio critica ist alles Nebensächliche ausgeschlossen, insbesondere Orthographisches nur insoweit berücksichtigt worden, als es zu besonderen Bemerkungen im Kommentar Veranlassung bot.

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Etwas ausführlicher muß hier auf die beigegebene Übersetzung eingegangen werden. Sie zu veröffentlichen habe ich mich nur zögernd entschlossen; ich tat es hauptsächlich in der Erkenntnis, daß auch sie insofern ein Stück des Kommentars ist, als sie die

Grenzen des in den verschiedenen Sprachen Möglichen zum Bewußtsein bringt: an vielen Stellen sah sich der Übersetzer gezwungen, die Prägnanz dieses Stils zu mildern, um nicht dunkel, den Pomp, um nicht überladen, das archaisierende Kolorit, um nicht affektiert, die Kühnheit der grammatischen Konstruktionen und Figuren, um nicht gewalttätig zu erscheinen; manche Stellen lassen sich leichter griechisch als deutsch denken, und an solchen ist in der Einleitung oder im Kommentar gelegentlich der Versuch einer griechischen Prosaparaphrase oder metrischen Übersetzung gemacht worden. Schwierigkeiten bereitete für die deutsche Übersetzung die Wahl des Metrums. Vom Hexameter glaubte ich absehen zu sollen; denn selbst wenn ich so vorzügliche Hexameter zu bauen verstanden hätte, wie Hans Georg Meyer in seinem Epyllion 'Eros und Psyche' oder Max Seydel in seiner Übersetzung des Lucrez, so würde ich sie doch für eine Vergilübersetzung nicht verwendet haben. Schiller, der im Alter von 21 Jahren den Sturm auf dem Tyrrhener Meer' (aen. I 34-156) hexametrisch übersetzt hatte, erklärte in der Vorrede zu der 12 Jahre später erschienenen Übersetzung des II. und IV. Buches, daß der deutsche Hexameter nicht fähig sei, diejenige Biegsamkeit, Harmonie und Mannigfaltigkeit zu erlangen, die Vergil seinem Übersetzer zur ersten Pflicht mache; und ich meine, daß selbst diejenigen, die noch gegenwärtig für den deutschen Hexameter im Prinzip eintreten, ihn für eine Vergilübersetzung nicht postulieren dürfen. Denn der deutsche Hexameter hat für unser Ohr homerisches Ethos, dieses aber ist, wie von mir im Anhang VII zu zeigen versucht wurde, dem Verse Vergils fremd, der mit ganz anderen Mitteln operiert. Wenn nun selbst Scherer, der den Hexameter in deutschen Gedichten verteidigt, zugeben muß, daß er niemals dem Eindrucke eines griechischen oder lateinischen gleichkommen könne" und daß die unmittelbare Verständlichkeit, die ungezwungene Einstimmung mit dem Geist unserer Sprache durchaus das Hauptaugenmerk jedes Übersetzers sein muß, dem er im Notfalle alles andere aufzuopfern hat" (Kleine Schriften II 371. 373), so galt es, den Hexameter durch einen anderen Vers zu ersetzen. Schiller plante, auch das von ihm besonders geschätzte VI. Buch in den freien Stanzen des II. und IV. zu übersetzen (P. v. Boltenstern, Schillers Vergilstudien I, Cöslin 1894); die Absicht des Meisters haben andere auszuführen unternommen mir sind zwei Versuche dieser Art bekannt, aber ihr vergebliches Bemühen hat nur bewiesen, daß zu einer solchen Nachdichtung der Genius und die souveräne Formengewandtheit eines wahren Dichters erforderlich ist. Einen Vers nun, der dem vergilischen Hexameter

durchaus aequivalent wäre, habe ich nicht gefunden. Vergil hat seinen Vers vor allem durch die Wahl besonderer Caesuren und die Abwechslung von Daktylen mit Spondeen zum Träger der verschiedenartigsten Stimmungen gemacht, gleich geeignet um nur einige der in diesem Buche vorkommenden Motive zu nennen für das schmelzende Ethos der Liebe wie das Pathos des Hasses, für wehmutvolle Klage wie jauchzenden Dithyrambus, für inniges Gebet wie prophetische Ekstase, für das Säuseln des Windes wie das Krachen des Donners, für die Lieblichkeit des Paradieses wie die Schrecknisse der Hölle. Um nun wenigstens einen Ersatz für diese wundervolle Einheitlichkeit des Metrums innerhalb der Vielheit der Stimmungen zu erhalten, entschloß ich mich zu einem Verzicht auf die metrische Einheitlichkeit. Für die erzählenden Teile wählte ich den fünffüßigen Iambus, den auch v. Wilamowitz in einer kleinen Übersetzungsprobe grade aus diesem Buch (Vers 847-853) angewendet hat (Reden und Vorträge S. 270). An Stellen, die der Dichter selbst durch besonderes Ethos oder Pathos über das Niveau der einfachen epischen Erzählung in die Sphäre dramatischer Handlung oder lyrischer Stimmung emporgehoben hat, durchbrach ich den. ruhigen Fluß der Iamben episodisch durch Trochaeen oder durch freie Anapaeste (Verse mit vier Hebungen und freien Senkungen), bei deren Auswahl ich mich durch die an solchen Stellen dominierenden Rhythmen der vergilischen Hexameter selbst leiten ließ. Ich bin mir natürlich bewußt, daß diese поλuμeтpía ein bloßes Surrogat für das beständige Auf- und Abwogen der vergilischen Hexameter ist, aber durch das schwere Opfer der strengen metrischen Geschlossenheit gewann ich Freiheit für die Reproduktion der Stimmungen; ob das Opfer sich lohnte, das zu entscheiden ist nicht meine Sache. Von der Alliteration ist im Sinn des Dichters besonders an pathetischen Stellen reichlich Gebrauch gemacht worden; den Reim hatte ich in einer früheren Fassung meines Versuchs an lyrischen Stellen ebenfalls stark verwendet: jetzt ist er nur bei einem von mir im sogenannten modernen Nibelungenverse wiedergegebenen märchenhaften Motiv stehen geblieben, das uns, wie im Kommentar gezeigt ist, mehr germanisch als antik anmutet. Alles in allem bitte ich meine Übersetzung nur als ein árúvioua anzusehen und sie gelten zu lassen, wie Goethe von seiner Übersetzungsprobe des Byronschen Don Juan sagt: „Nicht als Muster sondern zur Anregung für andere Übersetzer."

In den Anhängen ist eine Reihe stilistisch-metrischer Fragen systematisch behandelt worden, um den Kommentar, der durch die

vielen, mir bei der Exegese grade dieses Dichters notwendig erscheinenden Zitate ohnehin stark belastet ist, etwas übersichtlicher zu gestalten. Als die Nachträge bereits gedruckt waren, erhielt ich durch die Liebenswürdigkeit des Verfassers die Abhandlung: „Die Nekyia im sechsten Buche der Aeneide Vergils von Walther Volkmann. Sonderabdruck aus dem Jahresbericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur. Breslau 1903" (11 Seiten). Ich konstatiere mit Freude, daß wir z. T. auf Grund der gleichen Argumente unabhängig von einander zu dem Resultat gelangt sind, daß der vermutliche Gewährsmann der philosophisch-eschatologischen Stücke des VI. Buches Poseidonios gewesen ist.

Für den Kommentar schulde ich der Gelehrsamkeit und unermüdlichen, selbstlosen Hilfsbereitschaft meines Freundes Richard Wünsch, der mit mir die Korrektur las, vielen Dank, insbesondere bei der Behandlung mythologischer Fragen; vor allem die Nachträge' enthalten eine Reihe wichtiger Bemerkungen und Verbesserungen aus seiner Feder; noch öfters aber als mit seinem Namen rede ich mit und in seinem Geist. Bei der Behandlung topographischer Einzelheiten (Cuma e contorni) hat mich Julius Beloch in dankenswertester Weise unterstützt: so hat er das Innere des Burgfelsens von Kyme neu durchforscht und es mir dadurch ermöglicht, eine exegetische Kontroverse zu entscheiden; Nissens italische Landeskunde II habe ich leider nicht mehr benutzen können. Die Übersetzung hat sich des liebevollen Interesses und sachverständigen Rates meines Schwagers Friedrich Vogt zu erfreuen gehabt; für sie verdanke ich auch meinem Vetter cand. theol. et phil. Johannes Weber eine Reihe nützlicher Winke und Vorschläge.

Breslau, April 1903.

E. N.

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