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3. Die Sage von der trojanischen Abstammung im Mittelalter.

Den Menschen vergangener Jahrhunderte machte die Frage nach der Herkunft ihrer Völker nicht viel Kopfzerbrechen. Sie kannten, den beiden geistigen Mächten entsprechend, unter deren Einfluß sie standen, zwei Zentren, von denen die Völker ausgegangen, die Hochebene von Ararat und die Stadt Troja. Die mittelalterlichen Chronisten wiesen entweder auf Noah als den allgemeinen Stammvater hin, oder sie versuchten, ihr Volk und dessen Namen mit Troja in Verbindung zu bringen, mit der Stadt, aus der Äneas einst fortgezogen war. Manchmal allerdings begnügten sie sich damit, einen blutleeren Eponymos zu nennen, manchmal machte der Volksname die Ableitung von Troja unmöglich. Gewisse Anhaltspunkte mußten natürlich vorhanden sein, denn auch damals spekulierte man nicht ganz aufs Geratewohl. Isidor hat in seinen Etymologien viele eponyme Helden genannt, er erwähnt etwa Korsus, Serdis, Italus, Ausonius. Ähnlich spricht Saxo Grammaticus von einem Dan als dem Stammvater der Dänen, gibt ein König Nor Norwegen den Namen, benennt ein Orchanus die orkadischen Inseln.55 Des Namens wegen wurden die Goten von Magog abgeleitet, ließ man die Schotten von den Skythen abstammen. Trotz dieser Ausnahmen kann man von einer eigentlichen Sitte der Chronisten sprechen, die Völker als Nachkommen der Trojaner auszugeben.

55 Monumenta historica Norvegiae. Latinske Kildeskrifter til Norges historie i middelalderen; ed. G. Storm, pag. 69 ff.: Historia Norwegiae. Norwegia dicitur a quodam rege, qui Nor nuncupatus est, nomen obtinuerat (pag. 73); Orchades insulae numero plus quam 30, a quodam comite Orchano nomine vocatae (pag. 87).

Vielleicht wurde es als ehrenvoll angesehen, wenn man von gleicher Abstammung war wie die Römer. Schon die Arverner wollten als Römer gelten, und Ammianus Marcellinus berichtet, daß sich die Burgundionen als deren Abkömmlinge betrachteten. Später sprach man nicht von römischer, sondern von trojanischer Abstammung. Eine Trojanersage entwickelte sich bei den Briten, den Franken und den Dänen.56 Wir werden im Kapitel über die Städtegründungen hören, daß auch viele Städte ihre Gründer als Trojaner ansprachen.

Man darf aus dieser Tatsache rein nichts schließen in bezug auf politisches Denken, rein nichts folgern über die Stellung der Völker zum mittelalterlichen Rom oder zu den Griechen. Die Engländer, zum Beispiel, die doch sonst ausgiebigen Gebrauch von den Angaben. der Historia machten, haben nie unter Hinweis auf die Trojanersage imperialistische Ideen geäußert. Auch die Vorliebe des Mittelalters für die Geschichte vom trojanischen Krieg und die Sympathie für die Trojaner, hat nicht viel zu bedeuten. Wenn die ungemein beliebten Epen vom trojanischen Krieg 57, die übrigens auf die Sagen nicht von Einfluß waren, den Trojanern günstig sind und nicht den Griechen, so handelt es sich um rein literarische Traditionen. Das Mittelalter wollte von Homer nichts wissen (im allgemeinen). Statt Homer folgte es den pseudoklassischen Werken des Dictys Cre

56 Vgl. z. B. Ordericus Vitalis Historia ecclesiastica ed. Aug. le Prevost, vol. 3, pag. 474: Der Trojaner Antenor kommt nach Dacia. Denique supra littus Oceani maris, in boreali plaga consedit et sibi, sociisque et heredibus suis maritimam regionem incoluit, et a Dano, filio ejus, gens illa, e Trojanis orta, Danorum nomen accepit. 57 Vgl. M. Greif: Die mittelalterlichen Bearbeitungen der Trojanersage, Leipzig 1869; R. Witte: Der Einfluß von Benoîts Roman de Troie auf die altfranzösische Literatur, Diss. Göttingen 1904.

tensis und des Dares Phrygius.58 Die Wirkung des letztern war schon dadurch gesichert, daß seine Darstellung von Isidor angenommen worden war. Man machte Homer den Vorwurf, er lüge. Man konnte nicht verstehen, daß er Menschen mit Göttern kämpfen ließ.59 Sodann ist nicht zu vergessen, daß die Äneis, die die Römer - und das war für das Mittelalter entscheidend von den Feinden der Griechen abstammen ließ, eine starke Wirkung griechenfreundlicher Darstellungen unmöglich machte. Jedenfalls war der Einfluß des Dares, der vom trojanischen Standpunkt aus schrieb, viel größer als der des Dictys, der auf der Seite der Griechen stand 6o, obwohl seine dürren Bemerkungen sich kaum mit der Schrift des Dictys vergleichen lassen.

Wir haben nun angedeutet, daß sich verschiedene Völker von den Trojanern herleiteten, in einem andern Kapitel wollen wir untersuchen, ob die Sagen in Beziehung zueinander stehen, ob etwa die britische von der fränkischen abhängig ist.

4. Bedeutung und Wert der Brutussage. Obgleich unsere frühern Ausführungen zum Teil sehr unsicher gewesen sind, wird doch eines deutlich geworden sein: Die Brutussage ist ein Produkt gelehrter Spekulation und Erfindung. Infolgedessen kann man

58 Vgl. Finsler: Homer in der Literatur.

59 Vgl. Guido de Columna im Prolog zu seiner Geschichte vom Untergange Trojas, M. Greif, op. cit., pag. 6: Homerus apud Graecos ejus historie puram et simplicem veritatem in versuta vestigia variavit, fingens multa que non fuerunt et que fuerunt aliter transformando. Introduxit enim deos quos coluit antiqua gentilitas impugnasse Trojanos et cum eis fuisse velut viventes homines debellatos. 60 Vgl. H. Dunger: Die Sage vom trojanischen Kriege, Leipzig 1869.

nicht viele historische Tatsachen aus ihr herausschälen oder die mythologische Methode zu ihrer Erklärung verwenden. Brutus ist kein Erd- und ist kein Sonnengott; und wenn man alles, was in der Sage unwahrscheinlich ist, wegläßt, so bleibt nicht viel übrig, was als Geschichte ausgegeben werden könnte. Eigentlich sollte man nicht von Sage, sondern von Fabel sprechen.

Als man sich noch nicht klar war, auf welche Weise die Sage entstanden, hat man in ihr allerlei geheimnisvolle Dinge entdecken wollen. Die Jagd des Brutus im Gebiet des Piktenkönigs Goffar sollte sich auf die Verpflanzung des Druidismus nach Gallien beziehen, und wenn speziell Tours genannt wurde, so erinnerte man daran, daß hier der erste Sitz der neuen Lehre gewesen war.61 Brutus selbst wurde mit allen möglichen mythologischen Heroen verglichen.61

Es wäre interessant, wenn man zeigen könnte, daß die Trojasage von den Römern zu den Galliern ge

61 K. Eckermann: Lehrbuch der Religionsgeschichte und Mythologie der vorzüglichsten Völker des Alterthums, Bd. 3, pag. 248.

61a J. Braun: Naturgeschichte der Sage, Bd. 2, pag. 59 ff.: Da nun auch in Indien ein Urkönig und nach ihm das ganze Bharata (Bor-Seth) hieß wird es nicht weniger als lächerlich sein, wenn wir aus demselben Namensstamm auch die Prutenen oder Preußen, Ruthenen oder Russen, die Bruttier in Italien wie die Frisen und Briten gewinnen. Pruteno hieß ein preußischer Kronos-Typhon, der im Feuer endet, wie Herakles-Kronos . . ., und Brutus heißt in der keltischen Sage der Gründer von London oder Neu-Troja. Er war von Troja (nein) gekommen und von der Mündung der Loire erst ins innere Frankreich vorgedrungen, wo er mit der Jagd sich vergnügte (wie Typhon in Ägypten und Perseus zu Ninive), verlor aber in einer Schlacht seinen Enkel Turnus (Tur-Typhon), der zu Tours begraben liegt. Dann fuhr er nach Britannien. . . . Auch der Name der Stadt Paris (Lutetia Parisiorum) klingt nicht umsonst an den trojanischen Königssohn Paris an. Nicht nur der Name Pariser führt auf denselben Stamm wie die Briten zurück, sondern auch Lutetia kann dasselbe wie Lludain, London sein.

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langte, von diesen den Franken und hinwiederum den Briten übermittelt wurde. Obwohl den Galliern die Sage bekannt sein mochte 62 und obgleich in der fränkischen Völkertafel 63 Francus, Romanus und Britto als die Söhne desselben Vaters, des Hissitio, erscheinen, läßt sich kein literarischer Zusammenhang herstellen. Maßgebend war natürlich der geistige Einfluß Roms und die Bedingung für eine Entwicklung der Sage die Kenntnis Virgils, mehr läßt sich jedoch nicht sagen. Die fränkische sowohl, als die britische Trojasage sind unabhängig voneinander entstanden. Der Ausgangspunkt für beide ist die Ausdeutung gewisser Namen. Wir müssen kurz von der Sage bei den Franken sprechen.

Ähnlich wie bei der britischen, hat man auch bei der fränkischen Trojasage geglaubt, es liege ein alter Mythus vor, den die Sage historisiert habe.64 Dieser fränkische Mythus habe sich wohl auf Wodan und das Reich bezogen, aus dem der Gott bald auf längere, bald auf kürzere Zeit vertrieben werde. Man hat auch schon nach einer historischen Grundlage für die Wanderungen gesucht und an das Schicksal gewisser Legionen erinnert. Noch 1836 hat ein Gelehrter (H. Müller) behauptet, die Franken stammten wirklich von Troja her und nach deutschen Wörtern geforscht, die er aus dem Griechischen ableiten konnte. Wir wissen heute sicher, daß wir es weder mit einem Mythus, noch mit historischen Reminiszenzen zu tun haben, daß es sich auch nicht um eine Volkssage handelt, sondern um eine

62 Vgl. Roth: Die Trojasage der Franken, Germania, 1. 63 Abgedr. v. Mommsen, Abhandlungen der Berliner Akademie, 1862, pag. 532.

64 Vgl. Roth, op. cit.

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