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Richter jedoch verurteilen die Königinnen zu ewiger Verbannung. Sie werden mit Vorräten für ein halbes Jahr versehen und in einem offenen Boot ausgesetzt. Dieses treibt durch die Straße von Morocco und dann aufs große Meer hinaus. Stürme und Seeungetüme bringen die Frauen fast zur Verzweiflung; sie klagen laut und raufen sich das Haar. Albine tröstet die Schwestern, sie habe in der Nacht eine Erscheinung gehabt, sie wisse, der Gott Neptun werde sie alle bald an einen guten Ort führen.

Das Folgende wird in der Hauptsache gleich erzählt, wie in den andern B-Versionen. Waurin fügt etwa bei, daß die Schwestern das Land teilten 499, und daß Albine eine Verfassung schuf.500 Die Führer des Riesengeschlechtes, das von den Schwestern abstammt, sind zur Zeit, als Brutus an den Gestaden der Insel erscheint, Gogmagog und Lancorigam. Von diesen hatten die Schotten und Iren vor der Ankunft der Trojaner viel zu leiden.

Die Namen Diodicias und Lancorigam, sowie der Mord beweisen, daß die Fassung zur zweiten Gruppe gehört. Wenn wir sie aber mit derjenigen des englischen Brut vergleichen, fallen sofort große Unterschiede auf. Der Verfasser lokalisiert und rationalisiert einzelne Vorgänge.501 Er schildert viel freier und ausführlicher als alle andern bekannten Fassungen.502 Er kennt auch Züge,

499 Pag. 33: Sy departerent la terre et en eurent chascune sa portion.

500 Pag. 34: puis fist ung commandement general et une constitution merveilleuze.

501 Der König hat vier Frauen, die Schwestern geben ihren Männern vor der Ermordung einen Schlaftrunk.

502 Wirkung des Mordes, Besitzergreifung der Insel.

die zu A gehören; so weiß er zum Beispiel von der jüngsten Schwester und ihrem Geständnis zu berichten.

Wenn in irgendeiner Chronik die Albinasage erzählt wird, geschieht es gewöhnlich in einer Form, die zu B gehört.503 Diese Version hat gesiegt und A verdrängt. Obgleich Waurin von einer Verteilung des Landes unter die Schwestern erzählt und von einer Verfassung der Albine berichtet, kann man sich fragen, ob die Albinasage wirklich zu den Reichsgründungssagen gehöre. Die Frage ist zu bejahen; sie schildert nach mittelalterlicher Auffassung die erste Besiedlung Englands und stellt, den ältesten Zeiten entsprechend, einen staat- und kulturlosen Zustand dar.

VII. Allgemeine Betrachtungen zu den

Reichsgründungssagen.

In diesem Kapitel sollen ein paar wenige Bemerkungen, die sich auf das Thema im allgemeinen beziehen, vorgebracht werden. Wir sehen davon ab, hier die verschiedenen Fragen über Verbreitung der Sagen, Volkstümlichkeit, Entwicklung, Leserkreis, Einfluß der Antike, Kritik usw., Fragen, die in den vorausgehenden Kapiteln beantwortet worden sind, oder in den folgenden noch beantwortet werden, zusammenzustellen.

Das Land, von dem in unserer Arbeit die Rede ist, ist unter drei verschiedenen Namen bekannt: Albion, Britannia, England; es ist von Briten, Römern, Sachsen, Dänen, Normannen ganz oder teilweise erobert worden;

503 Vgl. Liber Monasterii de Hyda, ed. E. Edwards, pag. 3 ff.: A short English Chronicle from Lambeth MS. 306, ed. J. Gairdner, Three fifteenth-century chronicles, publications of the Camden society, 2, s. 28.

wir dürfen deshalb vermuten, daß in der englischen Literatur viele Gründungssagen zu finden sind. Eine Untersuchung bestätigt diese Vermutung. Es ist jedoch nicht so, daß alle diese Eroberungen entweder von Angehörigen des eigenen Volkes oder von Fremden zur Sage umgestaltet und überliefert worden wären. Wir haben Sagen über die Ureinwohner, über die britische, die sächsische und die dänische Eroberung. Wissen wir, wer sie ausgebildet hat? Nun, die Sage von Albina und die von Albion verdanken ihre Entstehung pseudogelehrten Interessen, die Nationalität der Schöpfer spielt, zumal es sich um die Ureinwohner handelt, keine Rolle. Sagen wir einfach, die Gelehrten. Ob die Sage von Angela sächsischen Ursprungs ist, kann man nicht mit Sicherheit behaupten. Die dänischen Sagen sind in den anglodänischen Gebieten Nordenglands entstanden, die Sagen von Brutus und Hengist, also die Sagen über die britische und sächsische Eroberung sind von britischen Schriftstellern ausgebildet worden. Warum sind die Sagen überhaupt entwickelt worden? Meist handelte es sich um die Erklärung des Landesnamens. Dies gilt für die Albina-, Albion-, Brutus-, Angela-Sage. Bei den Dänensagen fällt dieses,,wissenschaftliche" Moment weg; die Dänen haben den Namen des Landes ja auch nicht abgeändert. Die Hengistsage kennt ursprünglich keinen Eponymos, hat aber in ihrer Weiterentwicklung einen erhalten, indem behauptet wurde, Hengist habe das Land nach sich Hengistland genannt. Die Gründungssagen sind also entweder von Anfang an Eponymiesagen oder sie sind es später geworden (Ausnahme die dänischen). Aber nicht bei allen sind bloß rein gelehrte Interessen die Ursache zur Ausbildung und Entwicklung gewesen. Ge

wiß, auch die Brutussage will ursprünglich nichts anderes bedeuten als eine Erklärung des Namens Britannia; in der galfridischen Fassung jedoch ist sie zum Loblied auf die erhabene Abstammung der Briten geworden; die Hengistsage mutet an als eine Entschuldigung der Niederlage der Briten und die Haveloksage als eine Rechtfertigung der dänischen Herrschaft in England. Briten und Sachsen haben der Insel einen andern Namen gegeben, direkt oder indirekt, und deshalb ist es interessant zu sehen, daß Brutus und Hengist die bedeutendsten eponymen Helden der englischen Literatur gewesen und geblieben sind. In diesen Helden verkörpert sich zumeist Fühlen und Denken, Leiden und Wollen ihrer Völker. Diese Namengeber sind im besten Sinne des Wortes zu epischen Gestalten geworden. Das ganze Interesse ist auf sie konzentriert; nicht die Briten erobern die Insel, sondern Brutus, nicht die Briten unterliegen, sondern Vortigern, nicht Sachsen und Dänen erobern Britannien, sondern Hengist und Havelok. Der epische und eponymische Charakter der Helden erklärt auch, warum nur von einer britischen Einwanderung, einer sächsischen Eroberung, einem sächsischen Volk die Rede ist.

Die wichtigste literarische Quelle für die Gründungssagen ist Geoffreys Historia. Sie gibt, von den Städtegründungssagen abgesehen, nicht nur die Brutussage und die Hengistsage, sie hat auch die Entstehung der Sagen von Albion veranlaßt und beeinflußt, ebenso wie die Sage von Angela. Der Einfluß der Historia, die immer und immer wieder von eponymen britischen Helden berichtet, kann nicht genug hoch angeschlagen werden. Nach ihrem Vorbild sind Albina zur ersten Besiedlerin,

Hengist, Angela und Herzog Engle zu Benennern des Landes gemacht worden. Sie ist von den Normannen, wie wir wissen, sehr günstig aufgenommen worden; es ist aber nicht richtig, wenn man sagt, Geoffreys Historia habe nur bei ihnen eine fruchtbare Wirkung gehabt, man muß zum mindesten beifügen, vorerst.

Auffällig ist es, daß die antiken Ahnherren nicht von nationalen Gestalten verdrängt worden sind. Wohl haben einige Gelehrte der Renaissance die Albina durch Albion, den Neptunssohn ersetzt, wie wir noch hören werden, wohl hat der Chronist Robert Manning behauptet, der Name England stamme nicht von Maiden Inge, sondern vom Briten Engle; aber Brutus sowohl als Hengist haben ihre ruhmreiche Stellung gehalten. Nationale Sagen wie diejenige von König Edgar vermochten gegen sie nicht aufzukommen.

Die Sachsen treten als Schöpfer eigener Sagen in auffälligerweise zurück. Auch ihre Chronisten und Dichter überliefern zumeist die britischen Traditionen. Wir wissen allerdings nicht, was sie sich unter dem Helden Engle, der wie die Helden aller andern Sagen, mit Ausnahme der dänischen, ein erschlossener Eponymos ist, gedacht haben; es ist nicht ausgeschlossen, daß diese Sage in national-sächsischem Sinne empfunden worden ist, obwohl sie literarisch in britischem Gewande auftritt. Selbst Cerdic, der für die Entwicklung des englischen Staates wichtigste Held, ist in den Nebel der britischen Traditionen geraten.504

504 Über die Darstellungen von der Bildung der sächsischen Heptarchie haben wir uns, von einigen Ausnahmen abgesehen, nicht geäußert, da sie ursprünglich mit der Hengistsage nichts zu tun hat. Es würde sich lohnen, die verschiedenen Meinungen, die

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