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ALLE RECHTE,

EINSCHLIESZLICH DES ÜBERSETZUNGSRECHTS, VORBEHALTEN.

P. VERGILI MARONIS

AENEIDOS

LIBER SEXTUS.

Sic fatur lacrimans classique immittit habenas et tandem Euboicis Cumarum adlabitur oris. obvertunt pelago proras; tum dente tenaci ancora fundabat navis, et litora curvae

5 praetexunt puppes.

iuvenum manus emicat ardens litus in Hesperium; quaerit pars semina flammae abstrusa in venis silicis, pars densa ferarum tecta rapit silvas inventaque flumina monstrat.

Sechstes Buch. Äneas landet an der Küste von Italien und unternimmt, geleitet von der kumäischen Sibylle, den Gang in die Unterwelt.

1-13. Aneas landet bei Kumä und geht zum Tempel des Apollo. 1. sic fatur lacrimans, wie A 357 ὡς φάτο δάκρυ χέων von Achilles.

immittit habenas, eine von dem Rosselenker entnommene Metapher. Nachdem sie an den Klippen der Sirenen vorübergekommen sind, vgl. Aen. V, 864 flg., läßt Äneas den Schiffen durchs offene Meer vollen Lauf.

2. tandem, nach langer Sehnsucht, vgl. Aen. V, 34. Euboicis oris. Kumä, eine Kolonie von Chalcis auf Euböa, soll schon im 11. Jahr-. hundert v. Chr. gegründet worden sein.

3. obvertunt pelago proras, sie drehen die Schiffe, so daß das Vorschiff dem Meere, das Achterschiff dem Lande zugewendet wird;

letzteres wird alsdann an den Strand hinaufgezogen.

4. fundabat, gründete, d. i. hielt am Grund fest. Der Übergang vom Imperfekt zum Präsens wie Aen. IV, 149 flg. curvae. Vor- und Achterschiff war stark gekrümmt; vgl. Β 297 παρὰ νηυσὶ κορωνίσιν.

puppes,

5. praetexunt, es ist am Uferrand Schiff an Schiff gereiht. vgl. v. 3. emicat ardens, springt wie ein Blitz mit Feuereifer heraus.

6. Hesperium. Das in den Verkündungen der Götter bezeichnete hesperische Land war endlich erreicht; daher absichtlich hier litus Hesperium für Italien. semina flammae wie ε 490 σπέρμα πυρός, Feuerfunken.

8. densa tecta. Die Apposition steht hier vor dem Wort, zu dem sie gehört; vgl. Aen. X, 601. rapit silvas, plündert den Wald aus, wie Aen. II, 374. Die einen schlagen mühsam Feuer, die andern holen

Vergils Aeneis v. Kappes. II. 3. Buch VI.

1

at pius Aeneas arces, quibus altus Apollo

10 praesidet, horrendaeque procul secreta Sibyllae, antrum immane petit, magnam cui mentem animumque Delius inspirat vates aperitque futura.

iam subeunt Triviae lucos atque aurea tecta. Daedalus, ut fama est, fugiens Minoia regna, 15 praepetibus pinnis ausus se credere caelo insuetum per iter gelidas enavit ad Arctos Chalcidicaque levis tandem super astitit arce. redditus his primum terris tibi, Phoebe, sacravit remigium alarum posuitque immania templa. 20 in foribus letum Androgeo, tum pendere poenas

schleunig Holz aus dem nahen Wald und finden dabei flumina, fließendes Wasser, d. h. Quellen, zu denen sie dann ihren Genossen den Weg zeigen. Der Dichter denkt an die Gegend von Baiae.

9. altus Apollo. Der Gott hatte als Führer (άoxnyérns) der ersten Ansiedler seinen Tempel auf der Burghöhe von Kumä; er ist ihr Schutzherr, kein anderes Heiligtum kommt seinem Tempel an Ansehen gleich. altus, prädikativ: hoch, in der Höhe thronend.

10. horrendae. Frommer Schauer erfüllt den, der die gottbegeisterte Sibylle erblickt. procul, in einiger Entfernung von da. secreta, das vom Tempel getrennte Heiligtum.

11. antrum. Die Sibylle hat als Wahrsagerin ihre Grotte nahe bei dem Tempel des Gottes, der die Weissagekunst gibt.

mentem

animumque, Kraft des Geistes und des Gemütes, bezeichnet das ganze innere Wesen, vgl. κατὰ φρένα καὶ κατὰ θυμόν.

12. vates heißt der Gott selbst als Geber der Weissagekunst.

13. subeunt. Äneas und seine Begleiter gehen hinauf zum Hain der Trivia und zum Tempel Apollos, d. h. bevor sie zum Tempel gelangen, müssen sie den Hain der Trivia durchschreiten. Der Burgfelsen, unten von Grotten durchhöhlt, stürzt steil in die schmale Strandebene hinab; eine dieser Grotten ist das antrum immane. Über Trivia vgl. IV, 510.

14-41. Die Darstellungen auf der Tempeltüre. Eintritt in den Tempel.

14. Daedalus, ein athenischer Künstler, hatte dem König Minos auf Kreta das Labyrinth gebaut und wurde dann mit seinem Sohne Ikarus wegen der dem Theseus und der Ariadne geleisteten Hilfe gefangen gehalten. Aber auf kunstvoll gefertigten Flügeln entfloh er mit seinem Sohne. Ovid Metam. VIII, 152 ff. Auf dieser Flucht läßt ihn die Sage nach Kumä kommen und hier den Tempel des Apollo bauen.

15. praepes, vorwärts strebend (prae, peto), ein altertümliches Attribut von Flügel und Vogel.

16. enavit, eine vom Meer hergenommene Metapher, wie man umgekehrt auch von den Schiffen ,,fliegen" gebraucht. Vgl. Aen. V, 819. ad Arctos, hier nordwärts; die Sternbilder des großen und kleinen Bären bezeichnen den kalten Norden.

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Cecropidae iussi

miserum! septena quotannis corpora natorum, stat ductis sortibus urna. contra elata mari respondet Gnosia tellus: hic crudelis amor tauri suppostaque furto 25 Pasiphae mixtumque genus prolesque biformis Minotaurus inest, Veneris monumenta nefandae, hic labor ille domus et inextricabilis error. magnum reginae sed enim miseratus amorem Daedalus ipse dolos tecti ambagesque resolvit, 30 caeca regens filo vestigia. tu quoque magnam partem opere in tanto, sineret dolor, Icare, haberes. bis conatus erat casus effingere in auro,

bis patriae cecidere manus. quin protinus omnia
perlegerent oculis, ni iam praemissus Achates

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29. ipse, der Meister des Baues selbst entwirrte dessen Listen und Irrgänge. Ariadne, die Tochter des Minos, empfing von ihm einen Knäuel, dessen Faden sich aufrollend dem Theseus und seinen Genossen den Weg durch die Irrgänge zum Minotaurus zeigte und, nachdem der Held diesen getötet hatte, die Geretteten wieder zum Ausgang des Baues leitete.

30. caeca, vgl. Aen. IV, 209.

31. sineret. In der lebhaften Anrede (άлooτoon) rückt der Dichter, als wäre er selbst im Anschauen des Kunstwerks versunken, das Längstvergangene in die Gegenwart.

Im Vordersatz des irrealen Bedingungssatzes fehlt si, auch wir können sagen: 'ließe es der Schmerz nur zu.'

33. protinus, von Anfang bis Ende. omnia, zweisilbig zu lesen. 34. perlegerent, vgl. v. 13. praemissus, damit er die Sibylle herbeihole.

35 adforet atque una Phoebi Triviaeque sacerdos,
Deiphobe Glauci, fatur quae talia regi:
'non hoc ista sibi tempus spectacula poscit;
nunc grege de intacto septem mactare iuvencos
praestiterit, totidem lectas de more bidentis.'
40 talibus adfata Aenean nec sacra morantur
iussa viri Teucros vocat alta in templa sacerdos.
Excisum Euboicae latus ingens rupis in antrum,
quo lati ducunt aditus centum, ostia centum,
unde ruunt totidem voces, responsa Sibyllae.
45 ventum erat ad limen, cum virgo 'poscere fata
tempus' ait; 'deus, ecce, deus!' cui talia fanti
ante fores subito non vultus, non color unus,
non comptae mansere comae; sed pectus anhelum,
et rabie fera corda tument; maiorque videri
50 nec mortale sonans, adflata est numine quando

35. Phoebi Triviaeque. Zu Kumä erscheinen beide Gottheiten im Kultus vereint. Vgl. v. 13.

36. Glauci, vgl. Aen. V, 823. Zum Genetiv ergänze filia; ebenso im Griechischen Δηιφόβη Γλαύκου.

38. intacto. Zum Opfer durften nur Tiere genommen werden, die noch zu keinem Dienste verwendet

waren.

39. bidentis, vgl. Aen. IV, 57. 40. nec sacra morantur. Nach der Weisung der Sibylle wird das Opfer an den Altären vor dem Tempel unverzüglich dargebracht, vgl. Aen. IV, 62. Darauf erst treten sie in den Tempel ein. Der Dichter tut öfters Nebendinge kurz ab. 42-76. Der Ort der Weissagung. Das Gebet des Äneas.

42. excisum in antrum, zu einer Grotte ausgehauen, vgl. V. 11. Diese Grotte ist das innerste Heiligtum (rò advtov vgl. v. 98) des Tempels; der Gott selbst gibt dort durch den Mund der Sibylle seine Weissagungen. Nur durch den Tempel, nicht von außen kann man dorthin gelangen; wie an anderen Orakelstätten führte wohl auch hier ein unterirdischer Gang aus dem Tempel in die Grotte hinab.

43. aditus, für die Worte der Fragenden. Die Grotte selbst bleibt ihnen verschlossen. Diese aditus

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