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P. VERGILI MARONIS

AENEIDOS

LIBER QUARTUS.

At regina gravi iamdudum saucia cura vulnus alit venis et caeco carpitur igni. multa viri virtus animo multusque recursat gentis honos, haerent infixi pectore vultus 5 verbaque, nec placidam membris dat cura quietem. postera Phoebea lustrabat lampade terras

Viertes Buch. Äneas verläßt Karthago. Dido tötet sich im Schmerz über die Trennung.

1-89. Dido, von Liebe entbrannt, entdeckt ihr Herzeleid der Schwester Anna.

1. At. Dido im Gegensatz zu Äneas, der soeben seine Erzählung geendet hat. gravi cura, Liebespein, die sie schon während der Erzählung empfindet. Wie unter der Mitwirkung der Venus ihre Leidenschaft beginnt und zunimmt, schildert das erste Buch; vgl. I, 613, 716-22, 748 ff.

2. vulnus. Die Metapher von saucia wird fortgesetzt; Dido ist vom Pfeile Cupidos verwundet. venis, in ihrem Innern; je stärker die Leidenschaft wird, desto heißer rollt das Blut in ihren Adern. caecus: Das verborgene Feuer bezeichnet die 'heimliche' Liebe, von der sie langsam verzehrt wird. Vgl. Lucrez 4, 924: ex igni ca eco consurgere flamma (potest).

3. recursat. Das Frequentativum beschreibt den Zustand der Liebenden, nachdem die Gäste entlassen sind und sie sich in ihre Gemächer zurückgezogen hat. multa virtus,

die vielfach bewährte Tugend des Helden.

4. multus honos, die vielfältige Ehrenstellung, d. i. der reiche Glanz seines Geschlechts.

5. dat, läßt zu, vergönnt; Dido schläft zwar ein, findet aber keinen erquickenden Schlaf.

6. Phoebea lampade, hier die Strahlen der Sonne; III, 637 die Leuchte der Sonne, d. i. die Sonnenscheibe. Vgl. v. 118.

7. umentem umbram, ergänze noctis, wie II, 8 nox umida. Der Schatten der Nacht (eigentlich der Erdschatten) sinkt mit dem zunehmenden Glanz der Morgenröte vom Himmelsgewölbe hinab, wie er nach Untergang der Sonne am östlichen Himmel emporsteigt. Der jähe Übergang abends und morgens ist im Süden bei heiterem Himmel von starkem Taufall begleitet; bei Beginn der Nacht steigen in feuchten Gegenden die gefürchteten Nebel auf. polus, das Himmelsgewölbe, nach dem Vorgang griechischer Philosophen und Dichter, die eine beständige Umdrehung (ñólos πέλομαι) des Himmelsgewölbes um die Erde annahmen.

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umentemque Aurora polo dimoverat umbram,
cum sic unanimam adloquitur male sana sororem:
'Anna soror, quae me suspensam insomnia terrent !
10 quis novus hic nostris successit sedibus hospes,
quem sese ore ferens, quam forti pectore et armis!
credo equidem, nec vana fides, genus esse deorum.
degeneres animos timor arguit. heu! quibus ille
iactatus fatis! quae bella exhausta canebat!
15 si mihi non animo fixum immotumque sederet,
ne cui me vinclo vellem sociare iugali,

postquam primus amor deceptam morte fefellit;
si non pertaesum thalami taedaeque fuisset,
huic uni forsan potui succumbere culpae.

8. unanimam, die gleichge-
stimmte" Schwester, die mit ihr
vor dem Bruder geflohen war. Anna
(phönizisch Channa) hat Vergil aus
dem epischen Gedicht des Naevius
(† um 200 v. Chr. in der Verban-
nung zu Utica) entnommen.
male sana = parum sana, insana,

liebeskrank.

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11. quem sese ore ferens. se ferre, wie incedere, einherschreiten, bleibt in der Anschauung des vorhergehenden successit; vgl. I, 503. quem d. i. qualem, quam pulchrum ore, wie schön von Angesicht (einherschreitend d. i. erscheinend). An se ferens schließen sich in freierer Weise die beiden Ablative der Art und Weise an, die Ablativen der Eigenschaft nahe kommen, weil se ferre hier fast gleich esse ist; daher: wie tapfer sein Herz und seine Waffentaten (nämlich: et quam fortibus armis).

12. genus esse. Der Dichter läßt häufig den Subjektsakkusativ weg. 13. degeneres animos, hier Gegensatz zu genus deorum, unedel geboren, gemein. arguit, macht

deutlich, kenntlich, verrät.

14. iactatus, ergänze: est; Dido gedenkt zunächst der (im dritten

Buche) erzählten Irrfahrten, sodann der bei Troias Einnahme ausgefochtenen Kämpfe (vgl. das zweite Buch). canere sonst im Liede verherrlichen, hier in gehobener Rede erzählen, wie unser „singen und sagen".

15. sederet, wie stat sententia, von dem festen, unabänderlichen Entschluß.

16. ne vellem hängt von dem in immotum sedet liegenden Verbum imperandi oder impediendi ab.

17. deceptam morte, ergänze me: seit meine erste Liebe mich betrogen, d. i. mir mit Leide gelohnt' hat, die ich mich durch den Tod (des geliebten Gatten) in meinen Hoffnungen getäuscht sah. Die Qualen und Gefahren ihrer Lage nach dem Tode des Sychaeus sind I, 351 ff. geschildert. Deceptus auf Grabinschriften vom Vater, der seinen Sohn, decepta von der Gattin, die ihren Gatten zu früh verloren hat.

18. si non fuisset, wenn ich nicht einen Abscheu gefaßt hätte.

taedae. Bei den Römern wurde die Braut am Abend des Hochzeitstages von den Verwandten aus dem elterlichen Hause geleitet; ein Knabe schritt ihr mit brennender Fackel

voraus.

19. huic uni . . . culpae „dieser einen Versuchung erliegen" (Voß), d. i. in diesem einen Fall schuldig werden, nämlich des Treubruchs gegen den ersten Gemahl. — potui, gestern war ich imstande, heute nicht mehr, als habe sie die Schwäche

20 Anna, fatebor enim, miseri post fata Sychaei
coniugis et sparsos fraterna caede penates
solus hic inflexit sensus animumque labantem
impulit. agnosco veteris vestigia flammae.
sed mihi vel tellus optem prius ima dehiscat
25 vel pater omnipotens adigat me fulmine ad umbras,
pallentes umbras Erebi noctemque profundam,
ante, pudor, quam te violo aut tua iura resolvo.
ille meos, primus qui me sibi iunxit, amores
abstulit; ille habeat secum servetque sepulcro.'
30 sic effata sinum lacrimis implevit obortis.

Anna refert: o luce magis dilecta sorori,
solane perpetua maerens carpere iuventa,
nec dulcis natos Veneris nec praemia noris?
id cinerem aut Manes credis curare sepultos?
35 esto, aegram nulli quondam flexere mariti,
non Libyae, non ante Tyro; despectus Iarbas

überwunden, was sie durch v. 24ff. bekräftigt. Das Bekenntnis der Tatsache wirkt kräftiger als das übliche potuissem, freilich schränkt sie ihr Bekenntnis durch forsan wieder ein.

20. miseri, weil er von ihrem Bruder Pygmalion ermordet wurde. Vgl. I, 343ff.

21. sparsos, besudelt durch die Mordtat des Bruders.

22. inflexit, impulit: hat gebeugt den,,starren Sinn" und getroffen das Herz; labantem, proleptisches Partizip der Folge: so daß es wankte. 23. flammae, glühende Liebe, wie I, 673.

=

velim des Wunsches,

24. optem bleibt unübersetzt.

26. noctemque profundam, epische Erweiterung zu umbras Erebi; vgl. v. 510.

27. ante, wiederholt das vorausgegangene prius. pudor, Schamgefühl, fromme Scheu, der ersten Liebe durch eine zweite untreu zu werden. Pudor, hier wie eine Gottheit angeredet, deren Gesetze heilig sind (vgl. Aldos). Ein solches Gesetz forderte von der echten Römerin, daß sie nur einmal vermählt sei. Als Göttin wurde in Rom von den Frauen Pudicitia verehrt.

28. amores. Der Plural steigert

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34. Manes sepultos, die Manen des Begrabenen. Ursprünglich galt das Grab als die Wohnung der Manen des Bestatteten, später die Tiefe der Erde, die Unterwelt überhaupt. Aus v. 29 und 34 ist zu schließen, daß Dido später dem Ermordeten eine Grabstätte bereitet hatte, vgl. I 353 inhumati coniugis.

35. esto, es mag recht sein, daß du dich in deinem Schmerz über den Verlust des Sychäus (aegram) durch keine Freier (mariti) bisher hast umstimmen lassen.

36. Libyae. Genetiv zu mariti. Tyro, von Tyrus her; beide Kasus bezeichnen die Ortsangehörigkeit.

ductoresque alii, quos Africa terra triumphis
dives alit: placitone etiam pugnabis amori?

nec venit in mentem, quorum consederis arvis? 40 hinc Gaetulae urbes, genus insuperabile bello, et Numidae infreni cingunt et inhospita Syrtis, hinc deserta siti regio lateque furentes

Barcaei. quid bella Tyro surgentia dicam
germanique minas?

45 dis equidem auspicibus reor et Iunone secunda
hunc cursum Iliacas vento tenuisse carinas.

quam tu urbem, soror, hanc cernes, quae surgere regna coniugio tali! Teucrum comitantibus armis

Punica se quantis attollet gloria rebus! 50 tu modo posce deos veniam sacrisque litatis indulge hospitio causasque innecte morandi,

37. Africa terra. Die Ländernamen sind ursprünglich Adjectiva.

triumphis dives, nach römischer Anschauung: an Siegen reich. Afrika war von kriegerischen Volksstämmen bewohnt.

38. pugnabis amori. In der dichterischen Sprache werden die Verba des Kämpfens, wie im Griechischen, auch mit dem Dativ verbunden. placito amori, gegen die Liebe, die deinem Herzen genehm ist. Schon bei Terenz, Hecyra 242: vobis placita est condicio.

40. Gaetulae urbes. Die Gaetuli bewohnten südlich von Karthago das Binnenland d. h. die Oasen der Sahara; die Numidae sind die westlichen Nachbarn der Karthager, nach Sallust de bello Iug. 18ff. aus einer Mischung der Gaetuli mit einem zugewanderten Volke entstanden.

41. infreni. Die Numider gebrauchten die Pferde ohne Zügel.

inhospita Syrtis, gemeint ist die S. minor, die näher bei Karthago gelegene Bucht an der Nordküste Afrikas, die ebenso wie die weiter östlich gelegene Syrtis maior durch Sandbänke und Untiefen für die Schiffahrt gefährlich und daher unwirtlich war.

42. hinc. Die drei ersten mit hinc (hier) eingeführten Nomina bezeichnen wohl das Reich des Iarbas, der v. 326 selbst Gaetulus genannt wird, vgl. v. 198. Das zweite hinc (dort)

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weist auf die außerhalb dieses Rei-
ches weiter nach Osten zu wohnen-
den räuberischen Wüstenstämme
hin, als deren Vertreter die Barcaei
genannt werden. Barca, eine Stadt
im Gebiet von Cyrene, unweit der
großen Syrte.- late furentes, bezieht
sich auf ihre weitausgedehnten Raub-
züge.
44. germani minas.
Es war zu
befürchten, daß Pygmalion wegen
der ihm durch Dido entgangenen
Schätze diese bekriegen werde. Vgl.
I, 361 ff. Wegen des unvollendeten
Verses vgl. I, 534 (6. Aufl.).

45. dis auspicibus, unter dem Schutz der Götter; vgl. III, 20. Iunone secunda, durch die Gunst der Iuno, die nicht nur Schutzgöttin Karthagos, sondern auch Ehegöttin ist (Iuno pronuba).

46. hunc cursum tenuisse = cursum huc tenuisse. Vgl. I, 534.

48. Teucrum = Teucrorum. Der erste König von Troia war nach der Sage Teukros aus Kreta.

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dum pelago desaevit hiems et aquosus Orion, quassataeque rates, dum non tractabile caelum.' His dictis incensum animum inflammavit amore 55 spemque dedit dubiae menti solvitque pudorem. principio delubra adeunt pacemque per aras exquirunt; mactant lectas de more bidentis legiferae Cereri Phoeboque patrique Lyaeo, Iunoni ante omnis, cui vincla iugalia curae. 60 ipsa tenens dextra pateram pulcherrima Dido candentis vaccae media inter cornua fundit,

52. dum pelago caelum enthält die causas morandi, die Anna der Schwester in den Mund legt: (Bleibet,) so lange noch . . . sich austobt.

aquosus Orion, wie I, 533 nimbosus. Schon Hesiod, Werke und Tage, v. 614ff. bezeichnet den sogenannten Frühuntergang des Orion als die Zeit des Eintretens der winterlichen Stürme und Regengüsse, in der die Schiffahrt aufhört. Diese Zeit fiel damals für die Länder des Mittelländischen Meeres in die zweite Hälfte des November. Dann steht das Sternbild in der Nacht am Himmel und geht bei Aufgang der Sonne am Morgen im Westen unter.

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hört ebenso zu lectas bidentis wie zu mactant.

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58. legiferae Cereri. Die Anuntne Θεσμοφόρος wurde als die Mutter der Gesetze und die Stifterin der Ehe gefeiert. Phoebo, dem Gott der Sühne und Reinigung. Auch Klytämnestra wendet sich durch einen Traum erschreckt an Apollo in Sophokles' Elektra v. 634ff. patri Lyaeo. Bacchus wird häufig mit Ceres verbunden als Vater des Wachstums; wie Ceres die Saaten fördert, so Bacchus, der Sorgenbrecher (Avaios), die Frucht des Weinstocks.

59. ante omnis, vgl. v. 45. Die hier genannten Opfer bringt Dido mit ihrer Schwester den vier Gottheiten als Sühnopfer für das Vergangene dar (hostiae animales, Servius). Die Seelen der Opfertiere sollten die Seele der Opfernden von dem Fluche erlösen (vgl. 24ff.). Nach diesen Opfern bereitet sie andere, größere vor (v. 60), um den Willen der Götter zu erforschen.

60. Dido prüft selbst das Opfertier der Iuno wurden namentlich weiße Kühe geopfert, vgl. Ovid, Am. 3, 13, 13 und sprengt ihm zu diesem Zweck Wein oder Wasser auf den Kopf; machten die Tiere eine Bewegung, so galten sie für gesund und tüchtig, wo nicht, für untauglich. Dem Opfer der weißen Kuh wohnt Dido bei; doch dieses fällt ungünstig aus. pateram gehört zu tenens und zu fundit, wie der Dichter III, 354 sagt: libabant pocula Bacchi. Sie gießt die mit Wein gefüllte Schale aus mitten zwischen die Hörner, d. i. auf die Stirn.

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