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befruchtend gewirkt. Nicht nur, dass zu seiner Oxforder Zeit (1500) Tyndale ein eifriger Hörer war, auch seine Freunde Erasmus und More sind stark beeinflusst, und wirken dann ihrerseits auf den englischen Humanismus zurück. Die blosse Vorstellung, Colet in ein italienisches Milieu zu versetzen, und die Erwägung, dass er dort unmöglich der einflussreichste Führer hätte werden können, genügt, um die Besonderheiten des englischen Humanismus eindringlich klar zu machen. Dieser Geist ist auch bei More fühlbar. More, der durch seine Picoübertragung einen Beweis für den indirekten Einfluss Savonarolas gibt, beweist durch die von ihm getroffene Auswahl, dass er im Sinne Colets nicht so sehr die neuplatonischen Spekulationen wie die praktische Frömmigkeit seines Helden zum Ausdruck bringen wollte.1) In diesen reformatorischen Bestrebungen wusste er sich eins mit Colet, sowie seine politischen und sozialen Ideen, die in der Utopia ausgesprochen sind, gleichfalls Coletschen Geist atmen. In diesem englischen Kreis wurden auch viele Ansichten des Erasmus geformt, die in seinem Lebenswerk Ausdruck gefunden haben. Im Umgang mit Colet, in der Teilnahme an dem für den Einsamen beglückend warmen home life in Mores Haus in Chelsea schwand die Härte und Verbitterung der Pariser Zeit, und die pietistische Atmosphäre seiner Schulzeit bei den Brüdern vom gemeinsamen Leben mit dem Grundgesetz der pietas erga deum wurde, und zwar dauernd, neu erweckt. Das Enchiridion enthält ein Echo des Coletschen Glaubensbekenntnisses: halte dich an die Bibel und die Lehre der Apostel, und lass die Theologen sich um das übrige herumstreiten; und die Vorrede des Novum Instrumentum, die das Christentum an die Spitze der geistigen Bewegung der Zeit zu stellen sich bemüht, ist Geist von Colets Geist. Worte wie die folgenden unterschrieb Colet mit ganzem Herzen: die Hoffnung, dass Wissenschaft und Religion vereint blühen möchten (denn Erasmus wie Colet waren im Verfolg der mittelalterlichen Enzyklopädie von dem Bewusstsein solcher Einheit durchdrungen), die Befürchtung, dass, unter dem Vorwand einer Renaissance der Antike, Skepsis und Paganismus Einfluss gewännen u. a. mehr. Vor allem aber drücken

1) Dass More römisch-katholisch blieb, dass er, als die Reformation kam, sich scharf dagegen aussprach, gegen Luther und Tyndale zumal, dass er den Scheiterhaufen für die Ketzer empfahl, besagt nichts dawider. Für jene Zeit ist religiöser Freiheitsdrang mit politischem identisch, und gegen letzteren wandte man sich aus politischen Gründen. Immerhin ist die Bezeichnung Reformator für More nur sehr bedingt zutreffend.

die Worte über Christus und die Bibel gemeinsame Überzeugungen aus: die Ausführungen, dass Christus als himmlischer Lehrer allein ewige Weisheit lehren könne, dass die Bibel in der Muttersprache von jedermann müsse gelesen werden können. Begeistert beglückwünscht er Erasmus zur Vollendung seines Werks und es ist einer der Widersprüche geistigen Lebens, dass der Vorläufer der englischen (puritanischen) Reformation sich mit Erasmus eins weiss in der Ablehnung des schroffen augustinischen Standpunktes — was Luther sofort zum Widerspruch herausforderte und der doch die Grundlage bildete für die reformatorische Bestrebung der Wiclif, Kalvin und der Puritaner. Gewiss, vieles im Humanismus eines Erasmus deckte sich mit Colets Ansichten, der religiöse Grundton, auf den alles abgestimmt war, und die pietas litterata, jene schon erwähnte Einheit von Religion und Literatur. Erasmus würde auch nie den Rat Bembos erteilt haben, der einem Freunde empfahl, die Paulusbriefe nicht zu lesen, um seinen Stil nicht zu verderben,1) aber die Freude an glänzender Dialektik, die bereit war, gleichviel welchen Standpunkt bei Anfang einer Diskussion einzunehmen, war den englischen Humanisten im allgemeinen ebenso fremd wie die leidenschaftliche Liebe der stilistischen Eleganz der heidnischen Autoren, wie ferner die Übernahme volkstümlich burlesker Formen in der Produktion (Encomion Moriae). Erasmus war kein Reformator, die Mehrzahl der englischen Humanisten mussten Reformatoren sein; dadurch unterscheidet sich der englische Humanismus von dem des festländischen Europa, auch von dem nördlich der Alpen. Colet erkannte das Scheidende nicht; mochte er immerhin eins mit Erasmus sein, nicht die Dogmen, sondern die praktische Weisheitslehre des Christentums in den Vordergrund zu stellen, der Kardinalpunkt ist, dass für Colet wie für die festländischen Reformatoren (und wie auch für die meisten englischen Humanisten) das Wesen des Christentums in der Versöhnung des Sünders mit Gott und der daraus fliessenden Sünden vergebung lag, für Erasmus aber in der sittlichreligiösen Lebensordnung und dem Vorbild, das Christus für eine Gott wohlgefällige Gesinnung gegeben.") Der Vorfall mit dem Schuh

1) Erasmus gegen Paganismus der italienischen Humanisten: 'Unus adhuc scrupulus habet animum meum, ne sub obtentu priscae literaturae renascentis caput erigere conetur Paganismus Brief an Capito (1518) Opera III/186, vgl. auch ibid. 1119.

2) Christus ist Erasmus das Vorbild der humanistischen Religiosität, die ,, Philosophie Christi" wird jedermann verständlich zu machen gesucht durch

des hl. Thomas hätte Colet belehren können: was bei ihm ethische Entrüstung war, war bei Erasmus ästhetisches Missfallen. Aber dafür fehlte Colet das Organ. Der englische Humanismus, dem das Griechische einzig Mittel zu dem Zweck war, zu den Quellen der hl. Schrift vorzudringen, musste blind sein ebenso für die intellek

das (sich schon bei Seneca und Paulus findende) Bild der militia Christi. Der christliche Streiter hat mit den Waffen des Geistes gegen die Versuchungen der sichtbaren Welt zu kämpfen, um die Krone des ewigen Lebens zu empfangen. Diese philosophia evangelica, die es, wie er ausdrücklich in der, späteren Ausgaben seines N. T. vorausgestellten, Epistola de philosophia evangelica bemerkt, nicht mit der essentia divina zu tun hat, und deren Kern darin besteht, dass sie 'docet animum abducendum ab amore rerum visibilium ad studium earum, quae vere semperque sunt', findet er (natürlich, denn daraus war sie ja abstrahiert) ebenso bei der Antike: ‘Atqui vix quicquam est proditum evangelicis litteris, quod non multis ante seculis proditum fuerit veteris testamenti voluminibus, quaedam etiam philosophorum libris; animas superstites esse corporibus, proque meritis actae vitae vel praemiis vel poenis affici, praeter alios docuit Socrates ille Platonicus. . . Diese auch von den frühen christlichen Apologeten und den Vätern der griechischen Kirche erkannte Ähnlichkeit der christlichen Gedankengänge mit denen Platos und der Stoa, die Erasmus gerade mit den Formeln der von ihm neuentdeckten Kirchenväter zu umschreiben liebt, wird ihm dann zum Beweis der tatsächlichen Einheit. 'Itaque non mirum est, si philosophiam evangelicam totus mundus, ante in varias philosophorum et religionum sectas divisus, unanimi consensu amplexus est. Sein christlicher Stoizismus, der als Kern der Lehre Christi die Predigt von der die Welt verachtenden Gelassenheit, von der echten Milde und Toleranz, vom wahren Frieden und von der Liebe zu allen Menschen, die die gleiche edle Sehnsucht nach dem Höheren in sich tragen, erkennt, muss die platonisch-stoische Ewigkeitsstimmung als wirksamste Vorbereitung zur Gotteswissenschaft betonen. In dem Sinne sind die Worte aus dem Convivium religiosum gemeint: Sancte Socrates, ora pro nobis!' Er macht sich gänzlich die oft angeführten Worte des Basilius aus seiner Rede „an die Jünglinge" zu eigen, dass die klassische Literatur wegen der aus ihr zu lernenden moralischen Werte und Antriebe in christlichem Sinne fördernd wirke. Sein ästhetisches Gefühl braucht nicht das Opfer einer Verwerfung der Antike zu bringen, denn ein so aufgefasstes Christentum und eine so aufgefasste Antike gewährleistet ja gerade die Vereinigung des studium humanitatis mit der divina scientia. Seine pietas litterata birgt also einen anderen Sinn als die godly learning Latimers und Colets. Vgl. dazu H. Hermelink, Die relig. Reformbestrebungen des deutschen Humanismus. Tübingen 1907; für den Einfluss des Platonismus, der besonders in den Kapiteln über die Seele und über die Affekte im Enchiridion Militis Christiani hervortritt, vgl. Schröder, Palästra 83 S. 39–56. — Eine etwas andere Auffassung von Erasmus bei Troeltsch, Die Kultur der Gegenwart I/IV S. 270 ff. (Vgl. auch v. Below, Die Ursachen der Reformation 1907 S. 83 ff. u. Anm.) In stetem Hinblick auf die grossen Zusammenhänge zeichnet das geistige Sein des Erasmus die Schrift von Paul Mestwerdt, Die Anfänge des Erasmus.

tuelle wie die plastische Schönheit der Antike, er konnte die moralische Schönheit nur verschleiert sehen als praktischen Ratgeber für schwierige Lebenslagen oder als sekundäre Stütze der religiösen Wahrheit. In der kosmopolitischen Republik, in der Erasmus Herrscher war, lautete aber das Bekenntnis: was immer fromm ist und zu gutem Wandel hinleitet, sollte man nicht profan nennen. Der erste Platz soll gewiss der hl. Schrift eingeräumt werden; trotzdem aber kann man manchmal Worte finden bei den Alten, ja bei den Heiden, ja besonders gerade bei den Dichtern, so rein und schön, dass wir erkennen: es gibt mehr Heilige, als in unserem Katalog stehen. So Erasmus; eine Briefstelle Zwinglis räumt der Antike ausdrücklich denselben Platz ein. Eines aber übersah solche milde und wahrhaft humanistische Denkweise. Ein reformatio ecclesiae, wie sie Erasmus anstrebte, die durch Einführung eines weiteren Gesichtskreises in die katholische Pädagogik das Dogma mit der Freude an der Antike versöhnen wollte, mochte an sich noch angehen, eine reformatio aber, die über Scholastik und Kirchenväter hinweg auf den griechischen Text des neuen Testaments (Erasmus) und auf den hebräischen des alten (Reuchlin) zurückging und damit in Widerspruch mit der von der Kirche autorisierten Vulgata geriet, mochte noch so sehr betonen, an der Bibel selbst nicht Kritik üben zu wollen sie legte Hand an die Kirche selbst. Die Entwicklung musste unvermeidlich ihren Weg machen zu Luthers Freiheit eines Christenmenschen, dessen Lehren unvereinbar sind mit irgend einer Form äusserer Einheit der Christenheit, zu Kalvins demokratischer Form des Kirchenregiments, zu den individualistisch-anarchischen Formen der puritanischen Reformatoren. Sie musste ebenso unvermeidlich dazu neigen, den Tertullianschen Standpunkt mit seiner schroffen Ablehnung der Antike zu erneuern. Diese Entwicklung sahen auch die englischen Humanisten nicht voraus, wenn sie auch instinktiv gegen die beschwichtigende Kompromissneigung sich auflehnten. Der in der Theorie stets hochgehaltene Toleranzgedanke (schon im Gegensatz zum Mittelalter und in Übernahme aus dem Griechentum) und die Abneigung gegen Gewaltmassnahmen verschlossen ihnen vorerst diesen Weg der Konsequenz. Colet war der Humanismus und 'Devotio moderna' (Lpzg. 1917. Studien zur Kultur und Gesch. der Ref. II.), deren erster Teil: „Die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des erasmischen Frömmigkeitsideals" die religiösen Tendenzen des italienischen, deutschen und niederländischen Humanismus vergleichend zusammenstellt. (Daselbst alle weitere Literatur.) Über heidn.-christl.Stoa ibid. S.93 ff.

erste, der betont hatte, das Christentum habe nichts zu fürchten von dem neuen Wissen, Erasmus hatte keinen Willen gezeigt, an den Grundfesten der katholischen Kirche zu rütteln, More betonte, dass der Glaube an die Naturgesetze und an die Prinzipien des Christentums in voller Harmonie stehe. Äusserlich also stand die Kirche noch unangetastet zwischen Paganismus und Reformation. Deshalb konnte ein gegen das neue Wissen an den Universitäten gerichteter Angriff seitens der schottischen Partei (der Borealen) von More mit Leichtigkeit ins Lächerliche gezogen werden (vgl. Froude, Erasmus p. 131). Deshalb konnten schon Ende des 15. Jahrh. mehrere Klöster durch Teilnahme ihrer Äbte an humanistischen Studien zu ergiebigen Pflanzschulen der neuen Bildung umgeschaffen werden (vgl. Huber I/412), während Cambridge unter Bischof Fishers eifriger Tätigkeit Oxford nachzuahmen sich bestrebte.

Inzwischen war eine neue Phalanx von Humanisten in den Fussstapfen der Vorläufer gefolgt: Cheke, Smith, Wilson, Ascham, Haddon, Crooke, Tyndale, Stockley, Prior, Tunstal, Pace, Wakefield, Leland, Harrison. Auch ihnen schwebte die Stützung der Religion und des Gott wohlgefälligen tugendhaften Lebenswandels durch das antike Wissen als höchstes Ziel vor, auch sie waren wie ihre Vorgänger zum grössten Teil praktische Pädagogen. Zwei Dinge kommen hinzu: das erwachende humanistische Interesse des Hofs, wodurch die patriotische Färbung des englischen Humanismus stärker wird (nicht egoistischer Wissensdurst des Einzelnen und Ausbildung seiner Fähigkeiten ist das Ziel, sondern sein Anteil am Werk für das Wohl der Nation) und der Bruch mit Rom, der, gleichfalls mit politischer Färbung, die neuen Humanisten auch dem Namen nach zu Protestanten machte. Wurde schon bei Colets Kreis die praktische Tendenz des religiösen Erkenntnisdrangs hervorgehoben (Colet lehnte Reuchlins kabbalistische Studien als für seine Zwecke bedeutungslos ab), so wird dieser Zug jetzt verstärkt. Der Zusammenhang mit der späteren Puritanerbewegung, die Reformation mit Revolution verquickte, liegt klar. Mystiker wie Berthold von Regensburg, Meister Eckhart, Tauler, Seuse, Thomas a Kempis, die den Übergang aus römischer Frömmigkeit in eine evangelische leicht machten, kannte England nicht. Daher eine Verständnislosigkeit für alles, was bei Luther an trauliche und tiefsinnige Mystik anklingt, daher die von vornherein kalvinistische Einstellung aller derer, denen eine wirkliche Reform in religiös-kirchlichen Dingen am Herzen lag. Die Sonderstellung des englischen Humanismus hat wesentlichen Anteil daran.

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