Page images
PDF
EPUB

humanistischen und Renaissancebewegungen italienischer Prägung mit ausgesprochen aristokratischer Haltung (konform der Welt Platos und Plotins) nimmt ferner der englische Humanismus von vornherein den der Reformationsbewegung eigenen unaristokratischen Charakter an. Der Grundton ist angeschlagen mit dem fast beherrschenden Einfluss, den zu Ende des 14. Jahrh. Wiclif und seine Anhänger an der Universität Oxford zu gewinnen vermochten. Wiclif selbst war Leiter des Balliol College gewesen (um 1360) und sein Wirken musste in um so lebendigerer Erinnerung bleiben, als mit der Unterdrückung der Lollarden die geistige Bedeutsamkeit Oxfords dahinschwand. So war gerade in Oxford, das zum Florenz überflügelnden Zentrum griechischen Lernens werden sollte, noch lange der Verdacht Wiclifitischer Ketzerei an das Studium der griechischen Sprache gebunden (V. A. Huber/Die engl. Universitäten 1839 f. I/323). Denn das Studium des Griechischen war hier nicht Selbstzweck, auch nicht das hochgespannte ethische Wollen derer, die eine Vermittlung, oder, wie es ihnen wohl scheinen mochte, eine Synthese von Heidentum und Christentum bewerkstelligen wollten, sondern lediglich Mittel zum theologischen Zweck. Der des Griechischen Kundige konnte über die Vulgata hinweg zu der Überlieferung des neuen Testaments vordringen; so war Oxford in der zweiten Hälfte des 14. Jahrh. zum Hauptsitz des wissenschaftlichen Elements der reformatorischen Bestrebungen der Zeit geworden, die Vorstufe der Reformation, wo später die extremen puritanischen Elemente anknüpften, und fast wider Willen zum Rivalen von Florenz. Zu der Zeit jedoch, als wie gesagt, mit der Lollarden-Unterdrückung eine Schwächung des wissenschaftlichen Lebens eintrat, als, statt wie im 13. Jahrh., Organe der höheren Geistesbildung der ganzen Nation zu sein, die Universitäten wieder mehr kirchliche Vorbereitungsanstalten wurden, nur von den Clerici besucht, Schulen, deren Lehrer und Schüler mit wenigen Ausnahmen geistlichen Standes waren (Huber, I/324; 332; 336), zu der Zeit mussten die neuen Anregungen aus dem Ausland kommen, und fortan werden die Beziehungen zu Italien bedeutsam. Mittelpunkt dieser Bewegung war der Sohn Heinrichs IV., Duke Humphrey of Gloucester († 1447), der „,literatissimus", der in enger Berührung mit den italienischen Humanisten stand. Es wurde Notwendigkeit, nach Italien zu reisen, um dort zu studieren; manche trieb ihr Studiendrang noch weiter, so William Lily bis zur Insel Rhodus. William Selling, Robert Flemming, William Grey, John Free, John Gunthorpe, Tiptoft, Morton und

die drei Oxforder: Thomas Linacre (1460—1524), William Grocyn (1446-1519), Thomas Latimer (1485-1555) sind Namen, die diesen Stand des englischen Humanismus andeuten. Linacre und Grocyn waren zu Ende der 80er Jahre des 15. Jahrh. in Italien und kamen allem Anschein nach als vollendete Humanisten zurück. Damit tritt das Studium des Griechischen, das auf der Klosterschule Christchurch in Canterbury seinen Anfang nahm 1), in eine ganz neue Entwicklungsphase. Zugleich regt sich die erste Opposition, Erinnerung an Wiclif und Furcht vor italienischem Paganismus erschüttert die früher einheitlich freundliche Haltung der Kirche gegenüber dem Studium des Griechischen (die dann More, Fisher und der König wiederherzustellen suchen). Der Partei der ,,Trojaner" gegenüber musste Grocyn, als er in Oxford öffentlich Griechisch lehrte, gegen das Vorurteil einer heidnischen und ketzerischen Sprache ankämpfen (F. Seebohm/The Oxford Reformers 1869; p. 14). Es wäre unrichtig, wollte man daraus auf eine weltliche Richtung der griechischen Studien schliessen. Die Humanisten unternahmen die Reisen als ernste Pflicht, sie unterschieden sich von vielen Italienern durch strengste Sittenreinheit, und bei gleichem Enthusiasmus waren sie vor allem fromm; die meisten von ihnen gehörten dem geistlichen Stande an, und die Laien schlossen sich ihnen im Lebenswandel an.

1) Die Mönchsschule Christ Church des (Benediktiner-) Klosters Canterbury spielt schon eine Rolle bei der vermutlich ersten Berührung mit Griechen, als nämlich Manuel (der Sohn des Paläologos), der zweite der byzantinischen Kaiser, die Hilfe gegen türkische Bedrängung erbittend, nach Westen reisten, im Jahre 1400 dort abstieg. Dort, als an der grossen Strasse nach London liegend, hielten sich auch später griechische Abgesandte auf, z. B. Chrysoloras 1408. Bedeutend wurde die Schule durch das Wirken des späteren Priors William Selling (1430-1495), der mit Erlaubnis des Klosters zusammen mit William Hadley 1464 erstmalig nach Italien (Bologna) reiste und 1469 ein zweites Mal mit Reginald Goldstone. Selling, von dem auch die erste in England gefertigte Übersetzung eines griechischen Textes (Chrysostomos) ias lateinische herrührt (1488), brachte griechische Manuskripte mit und richtete nach seiner Rückkehr einen systematischen griechischen Unterricht an der Klosterschule ein. Dort erhielt dann auch Sellings berühmtester Schüler Linacre seinen ersten Unterricht. 1486 reiste er mit Selling nach Italien und wurde von ihm in Florenz eingeführt. Dorthin folgte ihm nach einem Jahr sein Freund Grocyn. Mit Linacre und Grocyn verschiebt sich das griechische Zentrum nach Oxford, wo das dem Kloster Christ Church affiliierte Canterbury College zum Vollenden der in Christ Church begonnenen Studien besucht wurde. (So Selling selbst, dann 1480 Linacre usw. [vgl. Dom F. A. Gasquet/La Veille de la Réforme en Angleterre, frz. Übers. von Bourgeois Louvain 1914 1/27 ff.]). Grocyn wird nach seiner Rückkehr (1492) Professor am Exeter College. Damit ist über den Rahmen Christ-Church-Canterbury-College hinausgegriffen.

Wissen, Religion, Tugend waren für sie unzertrennliche Begriffe und unter den Auspizien dieser Dreiheit wollten sie nach Latimers Ausdruck das fromme Wissen (godly learnynge) sich zu eigen machen, nach Goldwin Smiths treffendem Ausdruck lag für sie die Bedeutung der Renaissance und des Humanismus darin 'that Greece rose from the dead with the New Testament in her hand'.

Dies trat noch deutlicher in Erscheinung bei dem bezeichnendsten von den drei Männern, die man englischerseits unter dem Namen der Oxforder Reformatoren zusammenfasst. John Colet, der übrigens auch derjenige war, von dem seine Freunde Thomas More und Erasmus wesentlich bestimmt wurden, kam 1496 aus Italien zurück. Dort hatte er ebenso eifrig die neuplatonischen Schriften studiert wie man es von den Anhängern der Florentiner Akademie erwarten musste, aber zu seiner Zeit hatte das glühende Auge Savonarolas bereits das verdeckte Heidentum der Platoniker aufgedeckt und auch Colet in seinen Bann gezogen. Zudem musste die Abneigung Naturen wie Alexander VI und Cesare Borgia gegenüber eine ernste Prüfung und Kritik der römischen Kirche herausfordern, und den ethischen Motiven solcher Kritik gegenüber erschien auch der Glanz der Mediceer Akademie matt, leblos, kalt ein intellektuelles Spiel. So ist Colet sein Studiengang vorgezeichnet: nach Dionysius waren es Origines, Ambrosius, Cyprianus, Hieronymus und, mit Widerwillen, Augustinus, in die er sich vertiefte. Immer mehr tritt die Bibel als letzte Quelle aller Weisheit in den Vordergrund, und der nach Oxford Zurückgekehrte kündigt Vorlesungen an, nicht über Plato oder Plotin, sondern über die Paulusbriefe; Vorlesungen, die die ganze intellektuelle Welt Oxfords versammelten. Die schwache Brücke, die von den Idealen der heidnischen Philosophen durch die Florentiner zu einem etwas erstarrten Christentum geschlagen worden war, die Ficino und auch Savonarola und Pico gegangen waren, hatte in Colets Augen nicht mehr viel Wert, sie lag hinter ihm: sein Weg führte von Plotin zu Dionysius zu Paulus zu Christus. Seine Vorlesungen über die Paulusbriefe bilden so die Ouvertüre einer praktischen christlichen Reform. Man hatte die Lollarden totschlagen können, aber nicht ihre Idee, jetzt zeigte sich wie lebendig sie geblieben war.1) Colet wandte

1) Gasquets hauptsächlich auf J. Gairdner gestützte Ausführungen I/237 ff. und besonders die von Mullinger (Cambr. I/274 ff. gegen Huber I/156) dahingehend, dass Wiclif nicht als 'the morning star of the Reformation' aufgefasst werden dürfe, sind überzeugend. Denn sein Einfluss reichte nicht über seine

sich in seiner Paulusinterpretation gegen die scholastische Methode des mehrfachen Sinnes, wie sie in Thomas von Aquinos Dogmatik gipfelt: der wörtliche Sinn ist ein mehrfacher, der geistige ein dreifacher, nämlich allegorisch, moralisch, mystisch. Gewiss auch Colet konnte sich nicht über seine Zeit hinwegsetzen, er glaubte selbst an den allegorischen Sinn, aber die Art, wie im scholastischen System schliesslich das Werk zu einem dem Willen des Autors ganz entrückten Geheimsinn wurde, entrüstete ihn1), und seine Vorlesungen bemühten sich, unter Verzicht auf alle geistreiche Spekulation, die einfache praktische Lehre der Paulusbriefe herauszubringen. All das sind Dinge, die wir bei den feineren Geistern des Puritanismus wiederfinden, die nachdrückliche Liebe, mit der er auf Paulus' Ausspruch verweilt, dass Riten und Zeremonien weder den Geist reinigen noch den Menschen vor Gott rechtfertigen, dass eine Bekehrung zu demütigem Glauben notwendig sei, und vor allem die Intensität des Fühlens, das Eifernde, das einen Erasmus fast erschreckte, dass er ihn bewunderte als einen unter einer Eingebung handelnden: visus est sacro quodam furore debacchari Lebenszeit hinaus und der Lollardismus war gänzlich verschwunden, lange ehe die Reformation in Erscheinung trat. Aber, und deshalb besteht die Nennung Wiclifs zu recht: 'Lollardy did not exist in vain. A strong popular faith does not entirely die, because it never can be altogether unsound. The leaven of the Lollard doctrines remained after the sect had disappeared. It leavened the whole mass of English thought, and may be traced in the theology of the Anglican Church.' (Mull. loc. cit.). Ähnlich Green in seiner History (Everyman 330). Auch möchte ich darauf hinweisen, dass unmittelbar nach dem ersten Bekanntwerden des Lutherischen Auftretens Freund und Feind sofort Wiclif und Luther in einem Namen nennen und die Bücherindexe (1526 Bischof Tunstall, 1530 königl. Proklamation) die vermutlich doch vorhandenen Wiclifitischen Schriften zusammen mit denen Luthers usw. verbieten. So kann Tunstal 1523 an Erasmus schreiben, es handle sich (beim Luthertum) nicht um eine verderbliche Neuheit, sondern darum, dass der grossen Schar wiclifitischer Häretiker neue Waffen zugeführt würden. Und Erasmus schreibt folglich 1523 an Papst Hadrian Vl., die wiclifitische Partei sei wohl einst durch königliche Gewalt unterdrückt worden, aber nur unterdrückt und keineswegs ausgerottet (nach Trevelyan/England in the Age of Wycliffe, Lond. 1899 p. 349). Auch William Bond in The Pilgrymage of Perfeccyon 1531 spricht (abwehrend) von Wicl. u. Luth, als gleichbedeutend. (Über die Reformbestrebungen der Wiclifie vgl. Troeltsch/Soziallehren S 393–400). 1) Dass einzelne Stellen allegorisch zu verstehen seien, andere sowohl einen wörtlichen wie allegorischen Sinn haben, glaubte Colet auch. Aber schon den Zwang, neben dem wörtlichen Sinn stets einen allegorischen zu suchen, lehnte er ab und erst recht die Annahme, dass eine Stelle über die Absicht des menschlichen Autors hinaus ausgelegt werden dürfe.

aliud sonabat vox, aliud tuebantur oculi, alius vultus, alius adspectus, majorque videri, afflatus est numine quando' (vgl. Seebohm pp. 34; 61; 99) und die ihn beschwichtigend eingreifen lässt, als (1514) ein Pilger Colet des hlg. Thomas Schuh zum Kuss reicht und dieser mit puritanischer Heftigkeit abwehrt. Und immer schärfer kommt dieser Zug zum Ausdruck. Schon bei seiner Vorliebe für die Dionysischen Schriften war es das Christliche, nicht das Platonische, was ihn fesselte; sein Verlangen nach der Reinheit des Urchristentums lässt ihn mehr anstreben als nur die reformatio ecclesiae,,wenn nicht der Mittler Jesus schleunigst Hand anlegt, ist unsere ganz zerrüttete Kirche dem Tode nahe"; sein Zorn über Thomas von Aquino enthält eine scharfe weltliche Absage.1) Schliesslich bringt er in einer Diskussion mit Erasmus eine typisch puritanische Wendung, die seine Denkart scharf beleuchtet: die Bibelworte ,,Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein sondern dein Wille geschehe" will er nach Hieronymus gedeutet wissen, nicht als eine Schwäche des Heilands, sondern als gesprochen unter dem Bewusstsein der furchtbaren Schuld, die die Juden durch seine Tötung auf sich laden und vor der er sie bewahren möchte. Seine Lebenshaltung bietet eine weitere Parallele: sein Haus, das nie laute Gesellschaft sah; sein Tisch, auf dem jahrelang die Abendmahlzeit fehlte (vgl. Seeb. p. 140). So wirkte Colet auch auf seine Hörer; konnte man ihn, als er als Dean von St. Paul's anlässlich der 'convocation for the extirpation of heresy (1512) predigte, zwar nicht selbst als Lollard ansprechen, so fanden doch die, die lollardischen Ansichten zuneigten, in Colets Bibelauslegung und Lehre das Echo ihrer eigenen Ansichten und Überzeugungen. Schliesslich wenn wir den Lektürekanon der St. Paulsschule ansehen, die Colet mit W. Lily zusammen 1510 gründete, so finden wir nur christliche Schriftsteller, Laktanz, Prudentius, Proba, Sedulius, Juvencus, Mantuanus die diesen Humanisten also fast als Gegner der Antike enthüllen. Der Schüler Linacres und Grocyns, der Freund William Lilys der drei am meisten um das Studium des Griechischen in England verdienten Männer hatte aber auch schon vor dieser Schulgründung durch seine religiös-humanistische Lehre

[ocr errors]

1) Eine bezeichnende Stelle aus einer Disputation mit Erasmus über Th. v. Aquin: nisi habuisset multum arrogantiae, non tanta temeritate tantoque supercilio definisset omnia; et nisi habuisset aliquid spiritus mundani, non ita totam Christi doctrinam sua prophana philosophia contaminasset (Erasmi. Op. II1/458).

« PreviousContinue »