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PARERGA ARCHAEOLOGICA; VON LUDOLF STEPHANI. (Lu le 20 août 1852.)

XI.

(Mit einer lithographirten Tafel.)

Zu den schönsten Statuen, welche uns der Boden Griechenlands in den letzten Jahrzehnten wiedergegeben hat, gehören auch die beiden, welche ich auf der beiliegenden Tafel nach Zeichnungen von mir mittheile. Den Fundort der weiblichen, welche in Athen in der sogenannten Stoa Hadrian's unter No. 3578. aufbewahrt wird, konnte ich nicht erfahren. Sie ist in weissem Marmor ausgeführt, den Sockel nicht mit gerechnet, 1,58 Mètre hoch und an der Rückseite ein wenig flüchtiger behandelt, als an der Vorderseite. Besondere Beachtung verdient sie weder durch eine ungewöhnlich gute Erhaltung denn ausser einigen kleineren Beschädigungen fehlt ihr der Kopf und beide Vorderarme -, noch durch die Wichtigkeit des dargestellten Gegenstandes - denn sie war aller Wabrscheinlichkeit nach zu nichts Anderem bestimmt, als das Portrait irgend einer unbekannten Frau auf die Nachwelt zu bringen. Wohl aber fesselt sie sogleich das kunstgebildete Auge durch das ihr zu Grunde liegende Kunst-Motiv, welches uns nur noch in wenigen anderen, geringeren Exemplaren, und auch da nicht ohne wesentliche Veränderungen erhalten ist 1). Ueber einem langen Aer

1) Am nächsten kommen ihr im Motiv noch die Statuen bei Clarac: Musée de sculpt. Pl. 438 C. No. 776 A. Pl. 505. No. 1009. Pl.

mel Untergewand trägt sie ein Ober-Gewand, welches an de linken Seite offen ist und unterhalb dieses Armes, der gerade herabgehangen zu haben scheint, zusammengehalten wird. Der reiche Ueberschlag dieses Gewandes ist theils über die linke Schulter nach hinten zu geworfen, theils wurde er von der rechten Hand eben gelüftet, um wahrscheinlich über den Kopf gezogen zu werden. Würde, Ruhe und strenge Zucht treten uns aus dem Ganzen klar und ungetrübt, wie bei wenigen Frauen-Statuen, entgegen. Das Auge fasst leicht und verfolgt gern die straffen, grossartigen Linien, welche, ohne gesucht zu sein, die Formen des Körpers neben denen des Gewandes in seltener Bestimmtheit hervortreten lassen. Wie die Anlage im Allgemeinen, so ist auch die Behandlung im Einzelnen rein idealistisch; nirgends eine Spur jenes naturalistischen Strebens, welches seit der Mitte des ersten christlichen Jahrhunderts immer allgemeineren Anklang fand und sich immer weiter auf die letzten Einzelheiten erstreckte. Bei treffender Gliederung und Unterordnung der Massen sind alle irgend entbehrlichen Einzelheiten übergangen und in der Behandlung jeder Linie, jeder Fläche spricht sich noch (was natürlich nur das Original lehren kann) Frische der Auffassung, warme Hingebung an die einzelne Form in einem Grade aus, welcher uns nicht zweifeln lässt, dass diese Statue wenigstens um ein, vielleicht ein paar Jahrhunderte über den Beginn unserer Zeitrechnung zurückreicht. Jeden Falls nimmt sie zu Folge ihres Motivs überhaupt, sowie dessen Behandlung im Einzelnen eine der ersten Stellen unter allen uns erhaltenen weiblichen Einzel- Statuen ein, welche den Körper ganz verhüllen und sich dazu ohne weitere Hülfsmittel nur des gewöhnlichen Ober- und Unter-Gewands bedienen.

Die männliche, auch in weissem Marmor ausgeführte Statue ist, den Sockel nicht mit gerechnet, 1,97 Mètre hoch, wird in Athen im Theseion aufbewahrt und war während meines Aufenthalts in jener Stadt noch mit keiner Zahl versehen. Gefunden ist sie auf Andros, zugleich mit einer an

538 B. No. 1110 D. Janssen: Grieksche en Romeinsche Beelden et Beeldwerken T. 4. No. 15. 16.

deren weiblichen Statue, welche in der Stoa Hadrian's aufbewahrt wird. Von beiden hat Hr. Le Bas kleine? Skizzen mitgetheilt 2). Man bedauert jedoch, dass sich diese nur in den allgemeinsten Gedanken an die Originale halten, die Einzelheiten aber fast sämmtlich ganz nach der Phantasie des Zeichners gebildet zeigen. Ich gebe hier nur die männliche nach meiner Zeichnung und übergehe für jetzt die weibliche, da sich diese durch Nichts vor mancher der äusserst zahlreichen Wiederholungen desselben Motivs auszeichnet 3). In Betreff dieser Zeichnung bemerke ich, dass ich zu Folge der Aufstellung der Statue meinen Standpunkt kaum ein paar Fuss davon nehmen konnte, wornach Sachkundige das Einzelne zu beurtheilen wissen werden. Ueberdies war sie bei ihrer Auffindung von dem dazu gehörigen Baumstamm an der von mir in der Zeichnung angegebenen Stelle abgebrochen und ist nicht sorgfältig genug wieder mit demselben zusammengesetzt worden, so dass sie nach der einen Seite hin überhängt. Auch daran durfte ich Nichts ändern, wenn ich im Einzelnen noch irgend treu bleiben wollte. Die rechte Hand war in die Hüfte gestemmt; ob sie diese jedoch mit dem Inneren, oder mit dem Rücken (beides sind gewöhnliche Motive) berührte, kann nicht gesagt werden. Der linke Arm hing wohl gerade herab, und berührte entweder selbst oder doch das an ihm herabfallende Gewand den Ober-Schenkel, wo noch Spuren davon zu bemerken sind.

Das Motiv dieser Statue spricht Ruhe und Zuversicht in entschiedener, durch keinen fremdartigen Beisatz getrübter

2) Revue Archéol. To. III. Pl. 53. S. 281 ff.

3) Kaum eine der grösseren Sammlungen besitzt nicht wenigstens eine Statue, die dasselbe Motiv, nicht selten in sehr sorgfältiger Behandlung, wiedergiebt. Am häufigsten wurde es zu Portrait Statuen, jedoch auch für verschiedene Frauen der Sage verwendet. In der Kaiserl. Russischen Sammlung gehört hieher die ganz ungewöhnlich gut erhaltene, mehr als lebensgrosse Portrait-Statue, welche nebst der dazu gehörenden männlichen im Jahre 1850 in einem Grabe bei Kertsch gefunden wurde. 38

Mélanges gréco-romains. I.

Weise aus. Es gewährt dem Beschauer von jedem beliebigen Standpunkte aus volles Verständniss, ein abgerundetes Ganze, fliessende und leicht fassliche Linien, wohl gesonderte Massen und reichen Wechsel der Einzelheiten. Unter den von der alten Kunst für die männliche, nackte EinzelStatue in Anwendung gebrachten Motiven nimmt es eine der ersten Stellen ein und blieb daher auch während der römischen Zeit noch in häufigem Gebrauch. Dafür zeugen noch heute unsere Sammlungen, da die meisten grösseren von ihnen ein Exemplar aufzuweisen haben. Allein alle diese Wiederholungen stehen, so weit ich sie selbst gesehen habe, in der Behandlung weit hinter der Statue von Andros zurück und namentlich mag dies von der unter dem Namen eines Mercur bekannten Vaticanischen Statue ) besonders hervorgehoben werden, da sich diese eines unverdienten Rufes erfreut. Selbst die ihr seit ihrer Auffindung zu Theil gewordene Ueberarbeitung hat sie nur geleckter gemacht, aber nicht die zum Theil ziemlich groben Fehler, welche sich in ihrer unteren Hälfte beim ersten Blick bemerklich machen, zu verdecken vermocht. Die Statue in Athen zeichnet sich nicht nur durch ein vollkommenes Verständniss des menschlichen Körpers aus, welches der Künstler überall an den Tag legt, sondern auch durch die Sorgfalt und Genauigkeit, welche er jedem einzelnen Theile gewidmet hat. Auch bei ihr liegt die idealistische Richtung zu Grunde, und tritt namentlich in der Behandlung des Gesichts sehr entschieden hervor, indem diese (im Original; eine Linear-Zeichnung kann dies nicht hinreichend wiedergeben) zwar nicht verkennen lässt, dass sie individuelle Züge eines Portraits durchfühlen lassen will, sie aber so weit, als möglich, auf generelle Formen reducirt hat. Jedoch Frische und Unmittelbarkeit der Auffassung bei der Behandlung des Einzelnen zeigt sich an dieser Statue in einem sehr merklich geringeren Grade, als an der zuerst besprochenen weiblichen. Vor Allem sind die Haar-Massen hart angelegt, und bei der Be

4) Mus. Pio-Clem. To. I. Tav. 7.

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