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haben. Die Forderung aber solcher Natürlichkeit, einseitig festge= halten, führt sogleich zu Schiefheiten. Denn der Künstler, wenn er das menschliche Gemüth mit seinen Affecten und in sich substantiellen Leidenschaften schildert, darf dieß bei aller Bewahrung der Individualität dennoch nicht so schildern, wie sie im gewöhnlichen Leben alltäglich vorkommen, da er jedes Pathos nur in einer demselben schlechthin gemäßen Erscheinung ans Licht fördern foll. Dafür allein ist er Künstler, daß er das Wahrhafte kenne und in seiner wahren Form vor unsere Anschauung und Empfindung bringe. Bei diesem Ausdruck hat er deshalb die jedesmalige Bildung seiner Zeit, Sprache u. s. f. zu berücksichtigen. Zur Zeit des trojanischen Krieges ist die Ausdrucksart und ganze Lebensweise ebenso wenig von einer Ausbildung gewesen, wie wir fie in der Iliade wiederfinden, als die Masse des Volks und die hervorragenden Gestalten der griechischen Königsfamilien eine so ausgebildete Anschauungs- und Ausdrucksweise hatten, wie wir sie im Aeschylus oder in der vollendeten Schönheit des Sophokles bewundern. Eine solche Verlegung der sogenannten Natürlichkeit ist ein für die Kunst nothwendiger Anachronismus. Die innere Substanz des Dargestellten bleibt dieselbe, aber die entwickelte Bildung macht für den Ausdruck und die Gestalt eine Umwandlung nöthig. Ganz anders freilich stellt sich die Sache, wenn Anschauungen und Vorstellungen einer späteren Entwickelung des religiösen und sittlichen Bewußtseyns auf eine Zeit oder Nation übertragen werden, deren ganze Weltanschauung solchen neueren Vorstellungen widerspricht. So hat die christliche Religion Kategorien des Sittlichen zur Folge gehabt, welche den Griechen durchaus fremd waren. Die innere Reflerion z. B. des Gewissens bei der Entscheidung dessen, was gut und schlecht fey, Gewissensbiffe und Neue gehören erst der moralischen Ausbildung der modernen Zeit an; der heroische Charakter weiß von der Inconsequenz der Reue nichts; was er gethan hat, das hat er gethan. Orest hat um des Muttermordes willen keine Reue, die

Furien der That verfolgen ihn zwar, aber die Eumeniden find zugleich als allgemeine Mächte und nicht als die innern Nattern seines nur subjectiven Gewissens dargestellt. Diesen substantiellen Kern einer Zeit und eines Volks muß der Dichter kennen, und erst wenn, er in diesen innersten Mittelpunkt Entgegenstrebendes und Widersprechendes hineinseßt, hat er einen Anachronismus höherer Art begangen. In dieser Rücksicht also ist an den Künstler die Forderung zu machen, daß er sich in den Geist vergangener Zeiten und fremder Völker hineinlebe, denn dieß Substantielle, wenn es ächter Art ist, bleibt allen Zeiten klar, die particuläre Bestimmtheit aber der bloß äußeren Erscheinung im Roste des Alterthums mit aller Genauigkeit des Einzelnen nachbilden zu wollen, ist nur eine kindische Gelehrsamkeit um eines selbst nur äußerlichen Zweckes willen. Zwar ist auch nach dieser Seite hin wohl eine allgemeine Richtigkeit zu verlangen, welcher jedoch das Recht zwischen Dichtung und Wahrheit zu schweben nicht darf geraubt werden.

77) Hiermit sind wir zu der wahren Aneignungsweise des Fremdartigen und Aeußern einer Zeit und zur wahren Objectivität des Kunstwerks durchgedrungen. Das Kunstwerk muß uns die höheren Interessen des Geistes und Willens, das in sich selber Menschliche und Mächtige, die wahren Tiefen des Gemüths aufschließen, und daß dieser Gehalt durch ́alle Aeußerlichkeiten der Erscheinung durchblicke, und mit seinem Grundton durch all das anderweitige Getreibe hindurchklinge, das ist die Hauptsache, um welche es sich wesentlich handelt. Die wahre Objectivität enthüllt uns also das Pathos, den substantiellen Gehalt einer Situation, und die reiche, mächtige Individualität, in welcher die fubftantiellen Momente des Geistes lebendig sind, und zur Realität und Aeußrung gebracht werden. Für solchen Gehalt ist dann nur überhaupt eine anpassende für sich selber verständliche Umgränzung und bestimmte Wirklichkeit zu fordern. Ist solch ein Gehalt gefunden und im Princip des Ideals entfaltet, so ist ein Kunstwerk

an und für sich objectiv, sey nun auch das äußerlich Einzelne historisch richtig oder nicht. Dann spricht auch das Kunstwerk an unsre wahre Subjectivität, und wird zu unserem Eigenthum. Denn mag dann auch der Stoff seiner näheren Gestalt nach aus längst entflohenen Zeiten genommen seyn, die bleibende Grundlage ist das Menschliche des Geistes, welches das wahrhaft Bleibende und Mächtige überhaupt ist, und seine Wirkung nicht ver fehlen kann, da diese Objectivität auch den Gehalt und die Erfüllung unsres eignen Innern ausmacht. Das bloß historisch Aeußre dagegen ist die vergängliche Seite, und mit dieser müssen wir uns bei fernliegenden Kunstwerken zu versöhnen suchen, und selbst bei Kunstwerken der eigenen Zeit darüber wegzusehn wissen. So find die Psalmen David's, mit ihrer glänzenden Feier des Herrn in der Güte und dem Zorn seiner Allmacht, so wie der tiefe Schmerz der Propheten troz Babylon und Zion uns noch heute passend und gegenwärtig, und selbst eine Moral, wie Sarastro sie in der Zauberflöte singt, wird sich Jeder zusammt den Aegyptern bei dem innern Kern und Geiste ihrer Melodien gefallen lassen.

Solcher Objectivität eines Kunstwerks gegenüber muß deshalb nun auch das Subject die falsche Forderung aufgeben, sich selbst mit seinen bloß subjectiven Particularitäten und Eigenheiten vor sich haben zu wollen. Als Wilhelm Tell zum erstenmal in Weimar aufgeführt wurde, war kein Schweizer damit zufrieden. In ähnlicher Weise sucht Mancher auch in den schönsten Gefängen der Liebe vergebens seine eigenen Empfindungen, und erklärt deshalb die Darstellung für ebenso falsch, als Andre, welche die Liebe nur aus Romanen kennen, nun in der Wirklichkeit nicht eher verliebt zu seyn meinen, ehe sie nicht in sich und um sich her ganz dieselben Gefühle und Situationen wiederfinden.

C. Der Künstler.

Wir haben in diesem ersten Theile zunächst die allgemeine ·

Idee des Schönen, sodann das mangelhafte Daseyn derselben in der Natur betrachtet, um drittens zum Ideal als der adaequaten Wirklichkeit des Schönen hindurchzudringen. Das Ideal entwickelten wir erstens selbst wieder seinem allgemeinen Begriff nach, der uns zweitens jedoch auf die bestimmte Darstellungsweise desselben führte. Indem nun aber das Kunstwerk aus dem Geiste entspringt, so bedarf es einer producirenden subjectiven Thätigkeit, aus welcher es hervorgeht, und als Product_derselben für Andres, für die Anschauung und die Empfindung des Publicums ist. Diese Thätigkeit ist die Phantasie des Künstlers. Wir haben deshalb als dritte Seite des Ideals jezt zum Schluß noch zu besprechen, wie das Kunstwerk dem subjectiven Innern angehört, als dessen Erzeugniß es noch nicht zur Wirklichkeit herausgeboren ist, sondern sich erst in der schöpferischen Subjectivität, im Genie und Talent des Künstlers gestaltet. Doch brauchen wir eigentlich dieser Seite nur deshalb zu erwähnen, um von ihr zu sagen, daß sie aus dem Kreise philosophischer Betrachtung auszuschließen sey, oder doch nur wenige allgemeine Bestimmungen liefere, obschon es eine häufig aufgeworfene Frage ist, wo denn der Künstler diese Gabe und Fähigkeit der Conception und Ausführung hernehme, wie er das Kunstwerk mache. Man möchte gleichsam ein Recept, eine Vorschrift dafür haben, wie man es anstellen, in welche Umstände und Zustände man sich verseßen müsse, um Aehnliches hervorzubringen. So befragte der Kardinal von Este Ariosto über seinen rasenden Roland: Meister Ludwig, wo habt ihr all das verdammte Zeug her? Raphael ähnlich befragt, antwortete in einem bekannten Briefe, er strebe einer gewissen Idea nach.

Die näheren Beziehungen können wir nach drei Gesichtspunkten betrachten, indem wir

Erstens den Begriff des künstlerischen Genies und der Begeistrung feststellen,

Zweitens von der Objectivität dieser schaffenden Thätigkeit sprechen und

Drittens den Charakter der wahren Originalität zu ermitteln suchen.

1. Phantasie, Genie und Begeistrung.

Bei der Frage nach dem Genie handelt es sich sogleich um eine nähere Bestimmung desselben, denn Genie ist ein ganz allgemeiner Ausdruck, welcher nicht nur in Betreff auf Künstler, sondern ebenso sehr von großen Feldherrn und Königen als auch von den Heroen der Wissenschaft gebraucht wird. Wir können auch hier wieder drei Seiten bestimmter unterscheiden.

a) Die Phantasie.

Was erstens das allgemeine Vermögen zur künstlerischen Production angeht, so ist, wenn einmal von Vermögen soll geredet werden, die Phantasie als diese hervorstechend künstlerische Fähigkeit zu bezeichnen. Dann muß man sich jedoch sogleich hüten, die Phantasie mit der bloß passiven Einbildungskraft zu verwechseln. Die Phantasie ist schaffend.

a) Zu dieser schöpferischen Thätigkeit gehört nun zunächst die Gabe und der Sinn für das Auffassen der Wirklichkeit und ihrer Gestalten, welche durch das aufmerksame Hören und Sehen die mannichfaltigsten Bilder des Vorhandenen dem Geiste einprägen, so wie das aufbewahrende Gedächtniß für die bunte Welt dieser vielgestaltigen Bilder. Der Künstler ist deshalb von dieser Seite her nicht an selbstgemachte Einbildungen verwiesen, sondern von dem flachen sogenannten Idealen ab hat er an die Wirklichkeit heranzutreten. Ein idealischer Anfang in der Kunst und Poesie ist immer sehr verdächtig, denn der Künftler hat aus der Ueberfülle des Lebens und nicht aus der Ueberfülle abstracter Allgemeinheit zu schöpfen, indem in der Kunst nicht wie in der Philosophie der Gedanke, sondern die wirkliche äußre Gestaltung das Element der Production abgiebt. In die

Aesthetik, 2te Aufl.

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