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Gründungssagen; wir haben ihn schon bei der Brutussage angetroffen.

Von der Albinasage sind, wie wir noch hören werden, zwei Fassungen bekannt. In der einen wird der Mord nur geplant, in der andern aber ausgeführt. Beide erzählen, daß die Mädchen von ihrem Vater verbannt wurden und unter der Führung ihrer ältesten Schwester Albina nach der Insel gelangten, die von ihr den Namen Albion erhielt. Hat der Verfasser die Danaidenfabel willkürlich umgestaltet, oder hat er andere Traditionen im Auge? Bei der Lektüre der Sage fühlt man sich an die Geschichte der Hypsipyle erinnert.469 Hypsipyle ist die Tochter des Königs Thoas auf Lemnos und steht als Herrscherin an der Spitze eines reinen Frauenstaates. Das Fehlen der Männer wird mit einer Freveltat motiviert. Die Lemnierinnen sollen zur Zeit des Thoas alle ihre Männer ermordet haben. Andere Versionen kennen auch den Zug, daß ein Mann gerettet wurde. Als nämlich Aphrodite über die Lemnierinnen, die ihren Kult vernachlässigt hatten, zur Strafe den übeln Geruch verhängte, die Männer sich von ihren Frauen abwandten und aus Thrakien Kebsweiber holten, töteten die ersteren diese Weiber zugleich mit ihren Gatten. Nur Thoas soll durch seine Tochter Hypsipyle gerettet worden sein. Die wichtigste Übereinstimmung mit unserer Sage ist die, daß die Frauen die Männer aus eigener Initiative ermorden, und daß eine Frau eine führende Rolle spielt. Sind wir berechtigt, an eine Beeinflussung zu glauben? Man braucht nicht für jede Einzelheit nach literarischen Vor

469 Vgl. Paulys Real-Encyclopaedie der klassischen Altertumswissenschaft, hg. v. G. Wissowa, s. v. Hypsipyle.

bildern zu suchen, sonst müßte man auch an die Geschichte des Jordanes erinnern, der in seinem Werk über die Goten folgendes vom Ursprung der Hunnen überliefert: Der Gotenkönig Filimer, der mit seinem Volk nach Skythien gezogen ist, hat erfahren, daß sich gewisse Zauberweiber unter seinen Leuten aufhalten, die man Haliurunen nennt. Da er sie für verdächtig hält, läßt er sie vertreiben. Sie irren nun fern vom Heer in den Einöden herum. Unreine Geister erblicken sie und begatten sich mit ihnen. So ist das kleine und häßliche Volk der Hunnen entstanden. An diese gotischen Weiber wird man auch dadurch erinnert, daß der Führer der Riesen Gogmagog heißt und die Goten von Magog hergeleitet werden.

Keine der angeführten Stellen genügt zur Erklärung der Sage. Die Möglichkeit einer freien Umgestaltung der Danaidenfabel bleibt bestehen; sie muß von demjenigen vorgenommen worden sein, der die Albina aus Albion erschlossen hat. Als Beweis, daß die antike Fabel wirklich im Spiel ist, gilt auch der Name des Vaters der Frauen, der in einer der Hauptfassungen Dioclisias heißt. Ist dies wirklich eine Entstellung aus Danaus? Hat vielleicht nicht der Name des Akrisios eingewirkt, der wie Danaos König von Argos ist, und der seine Tochter Danae hat aussetzen lassen?

Wir haben die Albinasage als Erweiterung galfridischer Tradition betrachtet, müssen aber darauf hinweisen, daß sich ihr Schöpfer nicht um die Chronologie Geoffreys gekümmert hat, wenigstens stimmt die Bemerkung des Eulogiums, der griechische König habe ums Jahr 3900 nach der Erschaffung der Welt gelebt, nicht zur Historia.

Die Sage erzählt von den ältesten Einwohnern Britanniens. Wie stellte sich der Verfasser deren Leben vor? Im allgemeinen weiß das Mittelater ja wenig von historischer Entwicklung. Es hebt nicht die Unterschiede der Kulturen hervor, sondern sucht eher das Parallele, Entsprechende, der eigenen Zeit Konforme. Eine relative 'Beurteilung der Erscheinungen kennt es nicht, und die Bedingtheiten historischer Formen sind ihm fremd. Der Chronist verlegt etwa die Gründung einer Stadt in uralte Zeiten, der Epiker schildert die griechischen und römischen Helden als gewandte Ritter, und der Illustrator, der seinen Folianten schmückt, malt die Arche Noah als mittelalterliches Kauffahrteischiff, oder kleidet Juno, die ränkevolle Göttermutter, ins Gewand einer Nonne. Unsere Sage weiß nicht viel zu erzählen. Die Riesen leben in einem Zustand der Wildheit, sie wohnen in Höhlen und graben in den Bergen Gruben. Die griechischen Schwestern, die ja aus der Kulturwelt stammen, essen Kräuter und Steinfrüchte, schlagen Feuer aus dem Kiesel, erlegen die Tiere mit Fallen. Hätte der Verfasser sie eingehender geschildert, so wären sie sicher mit den Ideen und Gebrauchsgegenständen des Mittelalters versehen.470 Obgleich unsere Fabel sich nicht gut eignet zur Beantwortung der obigen Frage, so ist doch zu sagen, daß trotz der Riesen und der griechischen Nationalität ihrer Mütter ein gewisses Maß richtiger Vorstellungen zu erkennen ist. Das Mittelalter war für die Schilderung der ältesten Zeiten zum Teil auf literarische Quellen angewiesen, und so spielen die friedlichen Skythen Justins und die Eichelnahrung Ovids eine große Rolle.

470 Vgl. den folgenden Abschnitt.

4. Die Verbreitung der Sage.

Die Albinasage ist ursprünglich in einer Anzahl von lateinischen Prosatraktaten überliefert, von denen einer in ein anglonormannisches Gedicht umgearbeitet worden ist. Sie sind als Quelle der gesamten Tradition anzusehen. Später ist die Sage von den Chronisten als Einleitung zu ihren Werken benützt worden; am meisten zu ihrer Verbreitung hat wohl der Umstand beigetragen, daß sie an den Anfang des Brut gestellt worden ist. Schon im 14. Jahrhundert, in einer Interpolation der Flores historiarum, ist die Fabel der antiken Danaidensage angenähert worden.471 Wir werden später hören, daß die Sage in einer ähnlichen Form in der Renaissance auftritt, daß sie aber dann von einer andern, die vom Riesen Albion erzählt, verdrängt wird. Im allgemeinen haben die Dichter und Gelehrten der Renaissance sie mit Hohn und Spott zurückgewiesen, sie als ein elendes Machwerk bezeichnet, das nicht wert sei, am Anfang der englischen Geschichtswerke zu stehen. An einzelnen Dingen, wie an der Existenz böser Weiber war ja nicht zu zweifeln; aber von den incubi, zum Beispiel, wollte man nicht mehr viel wissen; Dunbar leistet sich etwa die unverschämte Parallele zwischen einem incubus und einem betörten Mönch 472, und ein Dramatiker, der von

471 Wir haben im vorigen Abschnitt die Meinung vertreten, dieser Text stelle nicht etwa eine ältere Stufe der Entwicklung dar. sondern sei eine spätere Umgestaltung der Sage. Wenn das erstere der Fall wäre, dann hätte die Sage, man darf dies mit Sicherheit behaupten, eine andere Gestalt bekommen. Übrigens ist auch zu beachten, daß der Interpolator die Danaidenfabel erzählen will und sie mitten unter die Geschichten aus der griechischen My. thologie rückt. Am Schluß deutet er nur kurz an, ohne die Albina zu nennen, daß einige Schwestern nach Albion geflohen sind.

472 Vgl. The testament of Mr. Andro Kennedy: I Maister Andro

Merlin erzählt, der ja auch einem Luftgeist das Leben zu verdanken haben sollte, bringt fröhlich den Teufel als den Vater des Propheten auf die Bühne.473

Am ausführlichsten haben sich R. Sternberg 474 und Fr. Brie475 über die Albinasage ausgesprochen. Beide sehen mit Recht einen lateinischen Traktat De origine gigantum in insula Albion als deren Quelle an. Man wird nicht fehl gehen, wenn man die erste Abfassung der Sage ans Ende des 13. oder an den Anfang des 14. Jahrhundert setzt.

Schon Ward 476 hatte in seinem Katalog auf diesen Traktat aufmerksam gemacht. Er nennt etwa ein halbes Dutzend Manuskripte, in denen er uns erhalten ist. Auf diese Angaben sind wir zum Teil angewiesen, da der Traktat mit den verschiedenen Varianten noch nicht gedruckt ist. Auf den ersten Blick meint man, die Fassungen seien einander ziemlich ähnlich; bei genauerem Zusehen gewahrt man jedoch Unterschiede, die mehr bedeuten, als wenn der Vater der Mädchen etwa einmal rex hispanie genannt wird. Nach diesen Unterschieden können wir zwei Gruppen von Traktaten, zwei Versionen unterscheiden, deren Spuren in der Überlieferung zu verfolgen sind.

Kennedy, Curro quando sum vocatus, / Gottin with sum incuby, / Or with sum freir infatuatus. J. Schipper. The poems of William Dunbar, Denkschriften der Wiener Ak. phil.-hist. Cl. 40, pag. 13. 473 Vgl. The birth of Merlin, ed. K. Warnke und L. Proescholdt. 474 Über eine versifizierte mittelenglische Chronik: Englische Studien 18, pag. 1 ff., pag. 356 ff. Der Verfasser hat sich eine eingehende Behandlung des Stoffes vorbehalten; allem Anschein nach ist aber nie etwas erschienen.

475 Geschichte und Quellen der mittelenglischen Prosachronik The Brute of England oder The chronicles of England, 1. Teil, pag. 32 ff.

476 Catalogue of romances, vol. 1, pag. 198 ff.

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